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Zeitgeschichte | Mischka will leben: Wie ein kleiner Junge 1922 vor der großen Hungersnot flieht


Link [2022-05-25 08:39:04]



Dem Ende des Krieges folgt 1922 der Hunger. Entlang des Wolgastroms leiden und sterben Russen, Deutsche, Tataren, Ukrainer, Mordwinen und Kasachen

Die Wolga drängt, einen ganzen Kilometer breit, durch Südrussland dem Kaspischen Meer zu und gibt der Gegend, die sie durchfließt, ihren Namen: Povolshe – an der Wolga. Es ist ein Vielvölkergebiet. Die Mehrheit spricht russisch. Rückständig leben die Menschen dort bis hinein ins 20. Jahrhundert, schlecht gebildet und oft in Armut. Sie treiben Ackerbau, Viehzucht, Fischfang, Handel. Das Kontinentalklima sorgt für heiße, trockene Sommer, lange, strenge Winter. Der Boden, den die Bauern beackern, ist fruchtbar, solange ausreichend Regen fällt. Die Wälder aber, die hier einst wuchsen, wurden in den davorliegenden zweihundert Jahren weggeholzt. Was blieb, ist Steppe: Äcker, Wiesen, Weiden, Unland. Nichts, das Wasser bindet, das Stürme bändigt. Kommt eine Dürre, leiden die Menschen, egal welcher Nationalität, nackte Not, und es füllen sich die christlichen wie die islamischen Friedhöfe.

So im Jahr 1921. Lange Trockenheit überfällt ein Land, das von Krieg und Bürgerkrieg bereits verheert ist. Die wenige Saat, die man ausbringen konnte, denn schon im Vorjahr war die Ernte schlecht, verdorrt in Glut und Wind auf rissigem Boden. Die Lage ist katastrophal, und das Gouvernement Samara an der mittleren Wolga trifft es am grausamsten. Die Bauern essen Gräser und Kräuter, ob zum Verzehr geeignet oder nicht. Eicheln gelten als Luxusspeise. Aus der Haut von Mäusen kocht man Gelee. Gehöfte stehen verlassen, weil alles, das darin gelebt hat, Mensch und Vieh, geflohen oder gestorben ist. Das Einzige, was über der Erde noch grünt, ist das Kupferdach der wolgadeutschen Kirche. Plötzlich Tropfen. Fallen vom Himmel ab, schwere großköpfige – Heuschrecken mit blinden Augen. Wer oder was kann aus dieser Apokalypse heraushelfen? Nur ein Wunder!

Da geht ein Gerücht durchs Dorf. Die Bauern erzählen davon, wenn sie beieinanderstehen. Im fernen Taschkent, sagen sie, gäbe es Brot zuhauf, billig. Und Beeren. Weintrauben sogar. Mühelos kann man seine Taschen mit Aprikosen vollstopfen. Zwar ist noch keiner von den Männern jemals da gewesen, und wie auch hinkommen? Man braucht eine Bahnfahrkarte! Wie soll man die bezahlen? Mischka steht bei ihnen. Er hört aufmerksam zu.

Die Schwächsten sterben in der Hungersnot zuerst

Zwölf Jahre ist der Junge alt, Held der Powest – des kleinen Romans – Taschkent, die brotreiche Stadt von Alexander Newerow. Der Autor ist 35, als er die Geschichte schreibt. Er wuchs auf im Gouvernement Samara. Die Mutter war Analphabetin und starb, als der Junge zwölf war. Das Kind erzog der Großvater, der Vater war Alkoholiker. In der Dorfschule, die nur drei Jahre dauerte, lehrten der Pope und ein Versicherungsagent Religion, Schreiben und Rechnen. In einem Dorf bei Samara arbeitet der Schriftsteller nun selbst als Schullehrer. Er weiß, wie Kinder reden, wie sie sich verhalten. Und er sieht, die Schwächsten sterben in der Hungersnot zuerst. In der Prawda steht: „Wenn wir nicht helfen, geht unsere Zukunft unter.“ Doch kommt denn Hilfe?

Der Schriftsteller Maxim Gorki appelliert „an alle ehrenwerten Völker Europas und Amerikas: Schickt uns Brot und Medizin!“ Die American Relief Administration (ARA) in den USA, die seit 1919 im Nachkriegseuropa Kinderspeisungen organisiert, hört den Ruf und bietet Hilfe an. Sie verlangt dafür uneingeschränkte Bewegungsfreiheit im Land, wörtlich „die volle Verfügung über das russische Schienennetz“. Außerdem will sie Hilfspersonal vor Ort einstellen nach eigenem Ermessen und ihre Nahrungsmittel verteilen, an wen und wie sie es für richtig hält. Revolutionsführer Lenin lehnt zunächst ab.

Doch nachdem er im März 1921 das politische Ruder herumriss – die Neue Ökonomische Politik (NÖP) beendet den Kriegskommunismus, der kleine Kapitalismus der Selbstständigen wird gestattet, er soll den wirtschaftlichen Aufschwung bringen – dürfen bald auch Hilfsorganisationen ins Land. Am 20. August 1921 wird in Riga eine Vereinbarung mit der ARA geschlossen. Erste Helfer treffen in Moskau ein und brechen von hier aus auf in die Notgebiete. Die Eisenbahn, welche die ARA nun nutzen darf, pfeift aber nach allem Terror auf dem letzten Loch. Tausende Brücken im einstigen Zarenreich sind zerstört oder beschädigt, knapp ein Viertel aller Waggons ist unbrauchbar, weit weniger als die Hälfte der Loks noch fahrtüchtig. Die Hilfe, die so dringend benötigte, wo bleibt sie? Vielfach auf der Strecke.

Von solidarischen Kommunisten fehlt jede Spur

Kommt sie glücklich bei den Menschen an, werden Kinder bevorzugt. Die ARA unterhält Speiseräume, wo man die Jüngsten verpflegt. In der Stadt Pugačëv im Gouvernement Samara gibt es acht solcher Säle für viereinhalbtausend Kinder; meist wird pro Familie nur ein Kind zur Verpflegung angenommen. Ergänzend verteilt der russische Staat Lebensmittel, die meist in der Ukraine requiriert werden. Auch gibt es Spendenaktionen zum Beispiel deutscher Kommunisten – Hunger ist Waffe. Es werden Politik und Propaganda getrieben mit der Not, damals. Und die Erinnerung an sie später wird ideologisch sortiert. So las man in der DDR nichts von der US-Hilfe. Heute bei Wikipedia sind westliche NGOs als Helferinnen erwähnt, aber von solidarischen Kommunisten fehlt jede Spur.

Und Mischka? Ist am Verhungern. Auch das Leben seiner Mutter und der jüngeren Geschwister steht auf der Kippe. Und was hat der Vater vor dem Tod zu ihm gesagt? „Jetzt musst du der Hausherr sein, Mischka.“ So hat der Junge nachgedacht und sich entschieden. Er wird hinfahren zu diesem Taschkent, um seine Familie zu retten. Er wird die Bahn nehmen, ohne zu bezahlen. Zu zweit machen sie sich auf, sein Freund Serjoschka, der erst elf ist, und er, mit leeren Säcken, in die viel Brot hineinpasst, allem Mut und fast keinem Proviant. „‚Wie viele Tage kannst du ohne Essen aushalten?‘, fragte Mischka. – ‚Und du?‘ – ‚Drei Tage.‘ – Serjoschka seufzte. ‚Länger als zwei Tage halte ich’s nicht aus.‘ – ‚Und wie lange kannst du ohne Wasser leben?‘ – ‚Einen Tag.‘ – ‚Wenig. Ich kann einen Tag und noch einen halben.‘ Als sie den Hügel verließen, sagte Serjoschka auf einmal: ‚Ich halte auch einen Tag und noch ein bisschen aus.‘“ In Newerows Text ist kein Platz für Sentimentalität. Umso stärker ist die emotionale Wucht.

Die Reise der Jungs zum Paradies führt durch die Hölle. Sie sind überfordert, oft ohne Orientierung, immer hungrig. Sie klettern den Waggons aufs Dach oder fahren auf Trittbrettern, klammern sich an. Sie werden verjagt, verprügelt, sie schlafen im Dreck. Bloß nicht krank werden! Denn das ist die andere Epidemie: Läuse und Hunger machen Typhus. Und Serjoschka wird krank. Er fiebert, fantasiert. Er stirbt.

„Taschkent, die brotreiche Stadt“ erscheint 1925 auf Deutsch

Mischka kämpft weiter. Er fährt durchs Orenburger Gebiet, wo Europa endet, Asien beginnt und damals noch kein Erdöl gefördert wurde. Nach Südosten fährt er, es geht durch Kasachstan. „Steppen, öde und wasserlos, laufen von dem Zug weg.“ Ein Stück Wüste sogar durchwandert Mischka. Hier und da wird ihm geholfen. Und er schafft es, er gelangt nach Turkestan und bis nach Taschkent. „Aus Körben und hölzernen Trögen leuchteten viele Sorten Äpfel und flache, weiße Brote und noch etwas, das wie Beeren aussah, in schwarzen und grünen Trauben.“ Mischka ist tatsächlich angekommen, wenn auch als obdachloser Bettler zunächst.

Zum Ende des Jahres 1922 gilt die Hungerepidemie im Wolgagebiet als überwunden. In Wahrheit wirkt sie lange nach. Newerow siedelt nach Moskau über. Sein Taschkent, die brotreiche Stadt kommt heraus und wird schnell zum populären Jugendbuch. Es erscheint ab 1925 auch mehrfach auf Deutsch, sowohl in Deutschland als auch im wolgadeutschen Gebiet der Sowjetunion. Newerow, der selbst gehungert hat und an Typhus erkrankt war, stirbt wenige Tage nach seinem 37. Geburtstag im Dezember 1923. Zehn Jahre später werden in Deutschland Bücher verbrannt und verboten. Da steht der Russe mit auf der Schwarzen Liste. Seine Werke werden aus Buchläden und Bibliotheken aussortiert.

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