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Zeitgeschichte | Luftkrieg 1942-1945: Kochende Häuser im Flammenmeer


Link [2022-05-29 09:27:50]



England geht im Luftkrieg gegen Deutschland zum „Moral Bombing“ über. Die Strategie richtet sich gegen große Städte, die nicht verteidigt, nur zerstört werden können

Brandleichen sind verkohlte, auf Puppengröße geschrumpfte Menschen ohne Gesicht, manchmal ohne Kopf. Von Armen und Beinen bleiben Stummel, wenn überhaupt. Um die Toten zu identifizieren, gelten Armreifen, Ringe und die Schnallen verbrannter Gürtel als Fingerzeig. Helfen können Angaben von Nachbarn, von Männern, Frauen und Kindern, die brennenden, von Gasen vergifteten Kellern entgangen sind. Und die wissen, wer fehlt. In Köln, Wuppertal und anderswo sind Feuerwehrleute und Sanitäter nur unter Alkohol zu bewegen, in Schutzräume zu gehen, um Menschen zu bergen, die zerfallen, wenn man sie berührt.

Im Frühjahr 1942 ist es für den Westen des Dritten Reichs wie für Berlin vorbei mit zunächst eher episodischen Reaktionen der Royal Air Force (RAF) auf den deutschen Luftkrieg gegen England. „Ein gewaltiges Feuer in Hitlers Hinterhof“ hat Premierminister Winston Churchill im Juni 1940 versprochen und am 14. Februar 1942 mit der „Area Bombing Directive“ verfügt, was geschehen soll, um aus „Deutschland eine Wüste zu machen“. Als vier Wochen später Luftmarschall Arthur Harris das Kommando über die britische Bomberflotte übernimmt, gilt die Order, durch Flächenangriffe „die Moral der feindlichen Zivilbevölkerung, vor allem der Arbeiterschaft“ zu brechen. Neben Industrierevieren, Rüstungsbetrieben und Bahnanlagen geraten Wohnviertel, vorrangig der Innenstädte, ins Visier anfliegender Luftgeschwader.

Ein erstes Exempel des „Moral Bombing“ wird in der Nacht vom 28. März zum 29. März 1942 an Lübeck statuiert. Innerhalb von zwei Stunden versinken 1.450 Gebäude und damit die gesamte Altstadt in einem Feuermeer, das stets von Neuem aufbrandet. Thomas Mann bedeutet seinen Landsleuten in einer Rundfunkbotschaft aus dem kalifornischen Exil, „lieb ist es mir nicht zu denken, dass die Marienkirche, das herrliche Renaissance-Ratshaus und das Haus der Schiffergesellschaft sollten Schaden gelitten haben. Aber ich denke an Coventry und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss“. Nächstes Ziel eines „Area Bombing“ ist die Altstadt von Rostock, die unter einem vom Himmel herabsegelnden Bombenteppich versinkt.

250.000 Brandbomben fallen bei „Operation Gomorrha“ auf Hamburg

Und doch handelt es sich 1942 erst um den Prolog zu einer Kriegsdramaturgie, die Städte als Bühnen des Horrors bespielt. Im Jahr darauf geht das anfangs mehrstündige „Area Bombing“ in ein mehrtägiges über. Bei der „Operation Gomorrha“ fliegen zwischen dem 23. Juli und dem 3. August 1943 Formationen von bis zu 800 Maschinen – neben britischen nun auch US-amerikanische – Hamburg an. Es fallen gut 250.000 Brand- und mehr als 4.000 Sprengbomben. Sie treffen die Stadtteile Rothenburgsort, Hohenfelde, Borgfelde, Hamm, Eilbek, Barmbek und Wandsbek. Über die Nacht vom 27. zum 28. Juli 1943 heißt es im Bericht des dortigen Polizeipräsidenten, Teile dieser Bezirke seien „in kaum einer halben Stunde in ein einziges Flammenmeer“ verwandelt worden. „Zehntausende von Einzelbränden vereinten sich in kürzester Frist zu Großflächenbränden, die zu Feuerstürmen von orkanartiger Gewalt führten. Bäume bis zu einem Meter Durchmesser wurden entwurzelt, Menschen zu Boden gerissen oder in die Flammen gezogen … Ihre Leichen bedeckten zu Hunderten die Straßen. Tausende kamen in den Schutzräumen ums Leben, sie wurden durch Kohlenmonoxid vergiftet und zum Teil zu Asche verbrannt.“

Hamburg erleidet, was bis dahin noch nie einer Großstadt durch Krieg widerfahren ist. Es gibt 280.000 zerstörte Gebäude und mindestens 30.000 Tote. Was sich absehen ließ, jedoch von der NS-Führung beharrlich ignoriert wurde, ist eingetreten: Die 61 deutschen Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern können bei Luftschlägen dieser Wucht nicht verteidigt, sondern nur zerstört werden – das Vermeidbare, dennoch Heraufbeschworene tritt ein. Noch 1943 teilt Hannover das Schicksal Hamburgs, 1944 sind es Frankfurt am Main und Köln, von Berlin und Dresden im Februar 1945 ganz zu schweigen.

Es ist die zeitlose, weil niemals zu widerlegende Erfahrung, dass moderne Kriege – sind sie einmal entfesselt – einen Glutkern ausbilden, dem schwer zu entkommen ist. Alles gehorcht einer Zwangsläufigkeit, die zu beherrschen das Menschen Mögliche überschreitet. Im Mai 1942 vermerkt Thomas Mann in einem Brief, wenn man sich vor Augen halte, was deutschen Städten noch drohe –„gerechterweise, notwendigerweise, unentbehrlicherweise“ –, befalle einen „dabei ein gelinder Schrecken“. Er behält recht. Städte wie Braunschweig, Frankfurt am Main, Münster oder Kassel unterbreiten dem Angreifer verlockende Angebote. Entweder brennen sie von innen heraus oder von außen nach innen. Ihre Stadtkerne gehen in Teilen auf das 17. und 18. Jahrhundert zurück, als niemand an Brandmauern dachte, stattdessen zwei- bis dreigeschossige Bauten durch Trennwände unterteilt wurden, die, in Brand gesetzt, umgehend und zuverlässig Feuerbrücken schlagen. Baustoffe wie Holz, Mörtel, Lehm und Ziegelstein liefern so viel Zunder, dass sich Brände vom Dachstuhl her Geschoss für Geschoss nach unten fressen, von Treppenhäusern genährt, die wie Kamine wirken. Wenn ganze Straßenzüge brennen, werden die Keller von Schutzräumen zu Grabkammern.

Es fehlt an Bunkern, Schutzstollen und Kellerdurchbrüchen

1942 haben Brandbomben mit Phosphor als Vollender des „Moral Bombing“ den Spreng- und Splitterbomben mit Zeitzünder den Rang abgelaufen, auch wenn die weiter zum Einsatz kommen. Schon um Feuerwehren und Rettungskräfte auf Abstand zu halten. Der nicht mehr einzuhegende, jedes Erbarmen verschüttende, totale Krieg tobt schon, bevor ihn Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast ausruft. Hitlers Heimatfront ist Churchills zweite Front, lange bevor alliierte Soldaten in der Normandie landen.

Als in Deutschland Tausende Nacht für Nacht im Feuerbad ihrer wie Magma kochenden Häuser untergehen, stellt sich heraus, wie unzureichend man darauf vorbereitet ist. Es fehlt an Bunkern, besonders Hochbunkern, an Schutzstollen und Splittergräben, an Kellerdurchbrüchen von Haus zu Haus, an Luftschutzwarten, die für eingeschlossene Hausgemeinschaften den einzigen, letzten rettenden Fluchtweg finden. Auch stößt eine aktive Luftabwehr durch Jäger und Flak an verblüffend enge Grenzen. Hermann Görings fliegendes Personal kann den Bomberschwärmen nicht viel entgegensetzen. Bei der Luftschlacht über und um England hat die Luftwaffe im Sommer und Herbst 1940 1.733 Flugzeuge – Jäger und Bomber – verloren, die Royal Air Force nur gut die Hälfte davon. Und im Angriffskrieg gegen die Sowjetunion brauchen ab Juni 1941 angreifende Panzerverbände jede Luftunterstützung, die sie bekommen können. Für die Heimatfront bleiben nur die Flak und ein gelegentlicher Jägerschutz. Der Luftkrieg verstärke „das Gefühl der Wehrlosigkeit des Einzelnen, aber auch der Gemeinschaft, gegenüber den aus der Luft drohenden technischen Gewalten. Durch dieses Ausgeliefertsein verändert sich in weiten Teilen des Volkes die Einstellung zum Krieg von Grund auf“, heißt es im Rapport des Reichssicherheitshauptamtes vom 5. August 1943.

Nicht nur die „Einstellung“, desgleichen die Einstufung. Ungefragt und bis auf weiteres unwiderruflich wird der „Volksgenosse“ zum Kombattanten in seiner Straße – einberufen vom Heulton der Sirenen, ausgerüstet mit Helm und Gasmaske, bewaffnet mit Wasserschlauch und Löscheimer, nicht wirklich wehrhaft, aber wahrlich verwundbar, dazu bestimmt, statt im Soldaten- anonym im Massengrab bestattet zu werden. Etwa 600.000 Menschen hätten die Luftangriffe nicht überlebt, konstatiert das United States Strategic Bombing Survey 1945, kurz nach Kriegsende. Hinzu kamen etwa 32.000 „Fremdarbeiter“ und Kriegsgefangene, denen es nur selten erlaubt war, in Bunkern Schutz zu suchen.

Als die Städte es aufgeben mussten, welche zu sein, gingen die Wundmale so tief, dass kein gnädiges oder leichtfertiges Gedächtnis dagegen ankam. Glaubte man zumindest.

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