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Zeitgeschichte | Alexandra Kollontai: Als die Sowjetunion vor 100 Jahren das Patriarchat kurz abschaffte


Link [2022-06-17 22:31:23]



In einem Erzählband bricht die Bolschewikin Alexandra Kollontai 1924 mit der Illusion, dass Emanzipation mehr Liebesglück garantiert

Rätselhaft ist, weshalb gerade die russische Intelligenz im 19. Jahrhundert eine starke literarische Kritik der patriarchalen Ehe entwickelte. Ein Phänomen, das sich nicht darauf beschränkte, Sexualität von traditioneller Moral zu befreien. Das berühmteste Zeugnis lieferte 1863 der auf persönlichen Erfahrungen beruhende Roman Was tun von Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski. Ein Kultbuch, dessen Titel Wladimir Iljitsch Lenin 1902 für eine politische Schrift übernahm. Tschernyschewski hatte klargestellt, die Frau müsse nicht nur das patriarchale Joch loswerden, sondern zugleich in die „vita activa“ eintreten. Nur als geistig und materiell selbstständige Person könne sie ein selbstbestimmtes erotisches Leben führen, dann würde auch der fatale gegenseitige Besitzanspruch bei Paaren hinfällig.

Zu einer solchen Frau wurde die 1872 als Tochter eines Generals geborene Alexandra Kollontai. Mit 20 Jahren heiratete sie gegen den elterlichen Willen „unstandesgemäß“ und ließ sich mit 26 Jahren wieder scheiden, um in Zürich Volkswirtschaft zu studieren. Sie war Marxistin, dann Menschewikin, wurde 1915 zur Bolschewikin und 1917 zur ersten Ministerin weltweit. Als Volkskommissarin für öffentliche Fürsorge dekretierte sie die Gleichberechtigung, lockerte das Eherecht, erließ Gesetze für den Mutter- und Kinderschutz und für das Recht auf Abtreibung. 1920 wurde sie als Vorsitzende der Frauenabteilung im Zentralkomitee der Bolschewiki zur Nachfolgerin von Lenins Geliebter Ines Armand. 1922 verließ sie den inneren Machtzirkel und vertrat ihr Land bis 1945 als Diplomatin in Norwegen, Mexiko und Schweden. Vielleicht war es ihre internationale Reputation, die Kollontai als eine der wenigen aus der ersten Bolschewiken-Generation vor stalinscher Repression schützte.

1925 publizierte der linke Berliner Malik-Verlag eine im Jahr zuvor erschienene Novellensammlung Kollontais unter dem Titel Wege der Liebe. In literarischer Verdichtung wird darin von Frauen erzählt, denen die Autorin in ihrer ZK-Abteilung begegnete, weil sie Rat und Hilfe suchten. Häufigster Grund waren die mit der Neuordnung der Geschlechterbeziehungen ausgelösten Lebenskrisen. Damit stand das Buch nicht nur quer zu kitschigen Versprechungen der bürgerlichen Moral. Es brach mit der Illusion, dass die Gleichberechtigung quasi automatisch mehr Liebesglück garantiere. Dennoch hatte der Band in der ebenfalls emanzipationsbewegten deutschen Arbeiterklasse großen, nachhaltigen Erfolg.

Bei Alexandra Kollontai widersetzt sich die Frau, nur für Haushalt und Kind zu sorgen

In der Novelle Die Liebe der drei Generationen widerlegt Kollontai den von der bürgerlichen Trivialkultur bis heute gepflegten Mythos, dass der Komplex von Trieb, Liebe und Partnerschaft eine stabile „natürliche“ Basis habe, vielmehr sei er von Lebensumständen sowie dem Lebensalter abhängig und also wandelbar. Olga Sergejewna, eine in hoher Wirtschaftsposition tätige Frau in den Vierzigern, die mit dem sieben Jahre jüngeren tuberkulosekranken Andrej harmonisch lebt, erzählt in einem Brief zunächst von ihrer Mutter, die – obwohl glücklich verheiratet – bereits einen Tag nach einer leidenschaftlichen Liebesbegegnung die Scheidung verlangte. Zeitlebens hatte die bei den „Volkstümlern“ engagierte und als Herausgeberin fortschrittlicher Schriften tätige Mutter die Auffassung vertreten, dass Frauen in Partnerbeziehungen stets der Stimme ihres Herzens folgen müssen. Als die in revolutionären Kreisen verkehrende Tochter Olga jahrelang zwischen ihrem politisch gleichgesinntem Partner und einem sie erotisch mehr fesselnden bürgerlichen Ingenieur schwankt, kommt es zum Konflikt mit der Mutter, die verlangt, dass sie sich für Letzteren entscheidet, zumal er der Vater ihrer Tochter ist. Olga wählt schließlich keinen von beiden.

Nun aber quält die emanzipierte Vierzigerin plötzlich, dass ihre 20-jährige Tochter Genia und Andrej ein Verhältnis ohne jedes Schuldgefühl haben. Zur Rede gestellt, offenbart Genia der Mutter, dass sie schon etliche Beziehungen wie die mit Andrej hatte. Nur konnte sie nie „so etwas wie Liebe“ empfinden. Genia überrascht mit der Behauptung, nur einen einzigen Menschen zu lieben – ihre sie missverstehende Mutter. Weinend fürchtet sie, dass es zum Bruch kommt. Wie der Fall gelöst wird, verrät die Novelle nicht. Allerdings wird suggeriert, dass besonders die Jugend ein Recht auf eine Zeit des sexuellen Experimentierens habe. Kollontai gesteht dieses Recht auch Älteren zu, weil es so viele Menschen gebe, die das Glück einer tiefen und dauerhaften Liebe nicht erlebten.

In einer weiteren Novelle aus Wege der Liebe erscheint eine verzweifelte Frau in der Frauenabteilung des ZK. Sie hat ihren Mann verlassen und ist nun ohne Geld und Obdach. Beide hatten sich im „Wirbel der Revolution“, im „Feuer des Kampfes unter dem Geknatter der Maschinengewehre“ gefunden. Die Probleme beginnen, als der Mann in der Periode der Neuen Ökonomischen Politik einen wichtigen Posten bekommt. Mit der NÖP werden 1921 marktwirtschaftliche Regeln eingeführt und bürgerliche Spezialisten in den Wirtschaftsaufbau einbezogen. Dem Paar geht es materiell besser, aber die Frau widersetzt sich dem Wunsch des Mannes, nur noch für Haushalt und Kind zu sorgen. Er nimmt „bourgeoise“ Gewohnheiten seiner NÖP-Freunde an, trinkt und bringt schließlich andere Frauen mit nach Hause. Durch die Rationalisierungen der NÖP wird der Kindergarten geschlossen. Gattinnen von gut verdienenden Männern dürfen zwar noch arbeiten, erhalten aber keinen Lohn mehr. Die Frau ist nun ganz von einem Mann abhängig, mit dem sie sich nicht mehr versteht. Eines Tages bringt der eine arbeitslose junge Frau mit, die gezwungen ist, sich zu prostituieren. Diese hat von einer Lebenspartnerin nichts gewusst, weint und will gehen. Doch dann verbünden sich die beiden Frauen gegen den Mann: „Statt einem arbeitslosen Kameraden zu helfen, kauft er ihn! Kauft seinen Körper zur eigenen Befriedigung! Das war mir so ekelhaft, dass ich mir sofort sagte: mit einem solchen Menschen kann ich nicht länger leben.“

Alexandra Kollontai schildert Flexibilität des neuen Geschlechtslebens

Kollontai stellte klar, dass die Gleichberechtigung das Patriarchat noch nicht beseitigt hat, dass es durch die NÖP gar wieder erstarkt. Trotz seiner eher tristen Botschaft wird das Buch ein internationaler Erfolg, erzählt es doch vom Freiheitsgewinn, der sowjetischen Frauen durch das liberale Abtreibungsrecht zuteil wird. Genia, die nicht weiß, von wem sie schwanger ist, treibt problemlos ab. Eine weitere Protagonistin will ihr Kind auch ohne Vater gebären, da sie sicher ist, die Wiedereröffnung der Krippe erzwingen zu können.

Die immer wieder zu überraschenden Wendungen führende Flexibilität des von Kollontai geschilderten neuen Geschlechtslebens macht das Buch bis heute lesenswert. Freilich wurden die feministischen Reformen schon ab Mitte der 1920er-Jahre nach und nach zurückgefahren. Es stellte sich heraus, dass die einer weitgehend analphabetischen, noch lange nicht sozial stabilen Bevölkerung gewährte sexuelle Freiheit zu einem enormen Zuwachs vaterloser Kinder führte. Dass der Staat sie versorgen und erziehen könnte, erwies sich als illusionär.

Ein 1936 verabschiedetes neues Familiengesetz der Sowjetunion galt als Stalins „sexueller Thermidor“. Es machte die Familie wieder zur einzig legalen Keimzelle der Gesellschaft, erschwerte Scheidungen, erlaubte Abtreibungen nur bei medizinischer Indikation und stellte Homosexualität wieder unter Strafe. Da weibliche Berufstätigkeit selbstverständlich blieb, konnten sich qualifizierte Frauen einen gewissen Freiheitsraum schaffen. Zur Emanzipationsbremse wurde der Umstand, dass Sexualität und Erotik in der Kultur überhaupt keine Rolle mehr spielten. Verordnet war verkitschte Prüderie mit ähnlichen Botschaften, wie sie die „modernere“ industrielle Massenkultur des Westens verbreitet.

Info

Wege der Liebe Alexandra Kollontai Buchverlag Der Morgen, Berlin 1982

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