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Zeitgeschichte | 1962: Linkes Kraftwerk


Link [2022-06-11 14:42:41]



Vor 60 Jahren führt der Bedarf nach mehr Theoriedebatten zur Gründung der Zeitung „express international“, heute: „express“. Sie wird bald zu einem Forum der Neuen Linken

Anfang der 1960er Jahre war Deutschland ein Entwicklungsland, jedenfalls was die linke Theoriedebatte anging. Im Vergleich zu Großbritannien, Frankreich und Italien ließ sich von dort nur wenig Innovatives vernehmen. Dabei gab es durchaus Bedarf, kam doch die junge Bundesrepublik gegen Ende der Adenauer-Ära zusehends in Bewegung, formierten sich bereits Vorläufer der Neuen Linken. Ein Ort dafür war der linke Rand der Sozialdemokratie, die mehrheitlich immer mehr in die Mitte drängte. 1959 verabschiedete sich die SPD beim Parteitag in Bad Godesberg offiziell vom Klassenkampf, Ende 1961 wurde der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) als zu links ausgeschlossen.

Um die Nachfrage nach grundsätzlicheren Analysen zu stillen, blickten einige über den nationalen Tellerrand hinaus. Zu finden, was es dort zu entdecken gab, und es der westdeutschen Linken zugänglich zu machen, war ein zentraler Antrieb für die Gründung der Zeitung express international. So bestand die zwölf Seiten umfassende Nullnummer, die am 23. Mai 1962 erschienen ist, fast ausschließlich aus Übersetzungen – etwa aus der US-amerikanischen sozialistischen Monthly Review, dem linksliberalen L’Espresso aus Italien und der 1960 in London gegründeten New Left Review. Prägende Themen der ersten Jahre waren Befreiungsbewegungen, Kolonialismus, aber auch die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung.

Knapp zwei Jahre nach Gründung stieß Eberhard Schmidt dazu. Damals Student in Frankfurt, arbeitete er später beim Vorstand der IG Metall, musste aber 1970 ausscheiden. Sein Pseudonym, unter dem er in express international geschrieben hatte, war aufgeflogen. „Wir waren Gewerkschaftsfunktionäre, die gegen den Apparat gekämpft haben“, erinnert sich der heute 82-Jährige. Er zählte zu denen, die linke Kräfte innerhalb der Gewerkschaften wie der SPD stärken wollten, in der er später als stellvertretender Juso-Vorsitzender aktiv war. Das Spektrum um express international, das am ehesten als linkssozialistisch beschrieben werden kann, lag in den Jahren um und nach 1968 zwischen den Lagern, die sich auf der einen Seite mit Kommunisten und Linksradikalen, auf der anderen durch rechte Kräfte in SPD und Gewerkschaften formiert hatten. Der Druck von rechts wuchs, da es im Blatt immer mehr um innenpolitische Fragen ging und Kritik an der Linie der Gewerkschaftsspitze unverkennbar war. So begleitete express international die wilden Streiks Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre mit großer Sympathie.

Selbstbestimmung statt Mitbestimmung

1972 fusionierte das Blatt mit der Sozialistischen Betriebskorrespondenz des inzwischen gegründeten Sozialistischen Büros (SB), woraus der express hervorging, wie er bis heute heißt. Kräfte sollten gebündelt und unterschiedliche Spektren miteinander verbunden werden: einerseits die kritische Wissenschaft und die Studentenbewegung, aus denen sich das SB wesentlich rekrutiert hatte, andererseits der linke Flügel der Gewerkschaftsbewegung von express international. Das alles aus einer sozialistischen Perspektive – antiautoritär, kommunismuskritisch, aber auch konfliktorientierter, als es die Spitzen der Gewerkschaften waren. Selbstbestimmung statt Mitbestimmung war die Losung, weshalb man auch stärker auf Vertrauensleute setzte als auf Betriebsräte – sehr zum Missfallen des Gewerkschaftsapparats.

In die Zeit der Fusion fällt der Vortrag „Nicht nach Köpfen, sondern nach Interessen“ des Sozialphilosophen Oskar Negt, der eng mit SB und express verbunden war. Hier waren die Ansätze herauszulesen, die das Politikverständnis der Publikation bis heute prägen: Erfahrung und Arbeitsfeld. Leute sollen da tätig werden, wo sie selbst sind – als Sozialarbeiter im Jugendzentrum, als Aktive in der Stadtteilinitiative, als Studenten an der Universität, als Arbeiter in der Fabrik. Das Angebot nahmen viele gern an, auch weil es ein gangbarer Weg in ein bürgerliches Leben war, bei dem man nicht gänzlich unpolitisch werden musste. Ausgangspunkt der Ansätze sollten nicht auswendig gelernte Masterpläne sein, sondern konkrete Bedürfnisse. Dazu Interessen und Erfahrungen, nicht nur, aber auch aus gemeinsamen Kämpfen, um bereits im Hier und Jetzt sichtbar zu machen, was möglich sein könnte.

Das Bedürfnis, sich gegen allwissende Agitatoren zu wenden, mag manches Mal selbst in Agitation umgeschlagen sein, aber der mittelbare Einfluss des projektorientierten Organisationsansatzes mit flachen Hierarchien auf die später entstandenen Alternativbewegungen kann kaum überschätzt werden. Ähnliches gilt für die Entwicklung in der Bildungsarbeit, wo die Erfahrungs- und die Arbeitsfeldorientierung einem linken „Nürnberger Trichter“ den Kampf ansagten. Fragezeichen wurden wichtiger als Ausrufezeichen.

Lokaler Mittelpunkt des express wie des SB waren Frankfurt am Main und das benachbarte Offenbach. Zu dieser Zeit formierten sich in und außerhalb der Sozialdemokratie linke undogmatische Sozialistinnen und Sozialisten. Der SB war die Form, der express ein Forum dieser Sammlung für Leute in den Betrieben. Ideologisch richteten SB und express sich in einer Position zwischen den Stühlen ein. Den K-Gruppen warf man vor, mit Kaderparolen von Lenin und Mao in die Betriebe zu marschieren, der Sponti-Szene zu archaisch zu sein. Beide Spektren waren sich einig in einem: Der express sei zu sozialdemokratisch und opportunistisch.

Proteste der Erwerbslosen

Freilich gingen die Hochzeiten von SB und express spätestens Anfang der 1980er zu Ende, was sich auch in den Abozahlen niederschlug: Bis zu 30.000 Leser bezogen in den 1970ern zeitweise den express, mehr als 10.000 Abonnenten zählte parallel dazu die links, eine etwas theoretischere Publikation des SB. Als Kirsten Huckenbeck im Sommer 1994 zum express kam, hatte die Zeitung gerade noch 1.600 Abonnements – Tendenz sinkend. „Es war eine Zeit, in der sich kaum noch Linke mit Arbeitsverhältnissen beschäftigt haben“, sagt Huckenbeck, die bis heute in der Redaktion tätig ist. Dabei hätte es ausreichend Gründe gegeben, sagt sie: „Mit den ökonomischen Krisen, mit den sozialpartnerschaftlichen Reaktionen der Gewerkschaft, den sozialpolitischen Kürzungen und der allgegenwärtigen neoliberalen Zurichtung entwickelte sich auch so etwas wie eine neue Opposition.“ Diese versuchte der express Anfang der 2000er Jahre verstärkt zu vernetzen, blickte wieder einmal über den gewerkschaftlichen Horizont hinaus und fand die Proteste von Erwerbslosen.

Trotz zunehmender Klassenkonflikte, trotz Hartz IV, der Finanz- und der Eurokrise sanken die Abozahlen weiter. Irgendwann, als nur noch 800 Kunden den express abonniert hatten, stand ein Ende des Projekts im Raum. Doch seit einigen Jahren geht es bergauf. Mittlerweile seien es wieder 1.000 Abos, sagt Redakteur Torsten Bewernitz, der sich seit drei Jahren um die Aboverwaltung kümmert. Er führt das gestiegene Interesse am express auf das linke Revival von Arbeitskämpfen und Klassenpolitik zurück – sowohl in Betrieben als auch an der Uni. Prekarität sei auch für Akademikerinnen und Akademiker längst kein aufschlussreicher Untersuchungsgegenstand allein, sondern eigene Erfahrung. „Den express lesen zwar nicht viele, aber die richtigen Leute“, sagt Bewernitz, was man an den Abonnenten sehe: Gewerkschaftsvorstände und Gliederungen seien dabei, aber auch linksradikale Gruppen und Mitglieder der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft FAU. Da zugleich die Spendenbeiträge seit einiger Zeit wieder stiegen, stehe der express heute einigermaßen gut da.

Wer zwischen den Stühlen sitzt, gerät leicht in Verdacht, sich nicht entscheiden zu können. Doch kann dies ebenso ein guter Ort sein, um zu vermitteln – zwischen unterschiedlichen Spektren, zwischen Kämpfen an verschiedenen Orten in Betrieben und in der Gesellschaft und zwischen unterschiedlichen Fraktionen der lohnabhängigen Klasse. Im besten Fall gelingt es, das Erfahrene zu bündeln.

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