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Zeitgeschichte | 1942: Leben auf Abruf


Link [2022-02-13 17:13:26]



Auf dem Landgut Steckelsdorf bei Rathenow bereiten sich junge deutsche Juden auf die Auswanderung nach Palästina vor. Doch die Hoffnung auf Ausreise schwindet

Rabbi Singer will die Damen im Berliner Palästinaamt nicht erschrecken. Also nimmt er seinen Hut nicht ab. Wäre es anders, würde sichtbar, was seinem kahlen Schädel geschehen ist. Das Hakenkreuz, inzwischen vernarbt, haben ihm SS-Leute in die Kopfhaut geschnitten, als der Rabbi nach dem Pogrom vom 9. November 1938 in ein KZ deportiert worden war. Nach ein paar Wochen durfte er zurück nach Hause, zu seiner Frau Lea, Tochter Toni, den Söhnen Leo und David – auch da saß er mit Hut am Tisch. Weil sich alle dermaßen freuten über seine Wiederkehr und ihm so nah waren, sollten sie nicht sehen, wie nah ihnen womöglich sein Schicksal war.

Im Herbst 1939 – der Zweite Weltkrieg hat begonnen – meldet Singer in der Berliner Meinekestraße den 17-jährigen David beim Palästinaamt an, seit 1924 eine Filiale der Jewish Agency for Israel. Der Junge soll sich ins Gelobte Land retten, eine Ausreise nach Palästina scheint einer der letzten Fluchtwege zu sein, die noch aus Deutschland herausführen. In seinem 1979 gedrehten Spielfilm David erzählt Regisseur Peter Lilienthal diese Episode ohne dramaturgische Ambition, eher beiläufig, fast dokumentarisch. Als sei das Gespräch zwischen David, seinem Vater und einer Mitarbeiterin des Amts einst gefilmt worden und durch glückliche Umstände erhalten geblieben. Es fällt schwer, zu verstehen, was geredet wird. Die Szene umgibt eine Geräuschkulisse, die an das Kommen und Gehen, die flüchtigen Momente einer Bahnhofshalle erinnert. „Es sind alte Flussdampfer, mit denen wir die Reise zur Küste Palästinas machen“, hören David und der Rabbi. „Die Route führt durch das sehr stürmische Schwarze Meer. Wir können keine Garantien übernehmen, alle Risiken liegen bei Ihnen. Trotzdem ist es ein großer Vorzug, wenn Sie auf einem solchen Flüchtlingsschiff einen Platz bekommen. Und wenn der Junge in der Nähe von Berlin in ein landwirtschaftliches Vorbereitungslager gehen würde, hätte er sehr gute Chancen, mitzukommen.“

Gelingt die Ausreise?

Rabbi Singer streichelt den Jungen, und die Sache ist besiegelt, masel tov. David zieht ins Landwerk, er lernt, Bäume zu pflanzen, Frühbeete anzulegen, Heu zu ernten, einen Freund wie Daniel zu finden, seine unbekümmerte Naivität zu verlieren. Wohin es ihn verschlägt, wird im Film nur angedeutet. Aber alles spricht dafür, dass Steckelsdorf-Ausbau gemeint ist, ein Gut nahe der märkischen Stadt Rathenow, knapp 80 Kilometer westlich von Berlin. Zwischen 1918 und 1920 entstanden, fällt das Gehöft mit der Inflation 1923 für ein paar Dollar an den Bankier Ludwig Feierabend, der es 1933 an den Berliner Rechtsanwalt Kurt Meyer aus der Kanzlei Kurfürstendamm 216 verkauft. Ein Jahr später erklärt der sich bereit, das gesamte Anwesen, dazu Gewächshäuser und Ställe, an die Brith Chaluzim Datiim, den „Bund religiöser Pioniere“, zu verpachten. Wie in Steckelsdorf unterhält der zionistische Jugendverband Mitte der 1930er Jahre etwa 80 Camps, um junge Deutsche jüdischer Herkunft auf ein Leben in Palästina vorzubereiten – Mädchen und Jungen zwischen 15 und 20, die nicht länger an „deutschen Schulen“ bleiben dürfen.

Gelingt ihre Auswanderung, werden sie auf lange Zeit oder für immer von ihren Eltern getrennt sein. Deshalb sind Besuche in Steckelsdorf unerwünscht, gibt es selten Urlaub, Abschied und Abschiedsschmerz noch in Deutschland. Doch empfinden viele der Bewohner das Landwerk als Vorgriff auf ein Leben ohne Angst, als Lohn für Zuversicht und Lebensmut. Nur fehlen die nötigen Papiere: Ausreiseerlaubnis, Schiffsticket, Transitvisum, Gesundheitspass, eine Einreiseerlaubnis für das „britische Mandatsgebiet“. Am Abend sitzen sie in Latzhosen aus grünem Kattun auf der Böschung eines Bahndamms, um dem vergehenden Licht des Tages hinterherzuschauen. Manchmal weht würzige Luft aus dem nahen Kiefernwald herüber und vertreibt den Stallgeruch. Fährt ein Zug vorbei, unterbrechen sie das Gespräch, bis sich das Schlagen der Räder über Schwellen und Gleisen gelegt hat. Die Strecke führt aus dem Ruhrgebiet in die Reichshauptstadt, wohin jede Rückkehr ein Wagnis ist, seit dort ab Oktober 1941 die Deportationszüge mit jüdischen Bürgern Berlins nach Osten rollen.

Ein Foto aus jener Zeit zeigt eine Gruppe aus dem Landgut auf dem Weg zur Arbeit, eine Wasserflasche am Gürtel, den Brotbeutel über der Schulter, mit der Tagesration aus drei Pellkartoffeln und zwei Scheiben Brot. Viele kommen ohne Lebensmittelkarten nach Steckelsdorf, sie hungern in Deutschland lange vor den anderen.

Leert sich das Gutshaus, brechen die Kohlenholer mit dem Handwagen zur „Neuen Schleuse“ auf, zu Bartels Holz- und Kohlenhandlung in der Rathenower Vorstadt, und bitten um Nachschub, der ihnen selten verwehrt wird. Über die Genthiner geht es vorbei an der Göttliner Straße. Unter der Nummer 55, in einem zweistöckigen Landhaus, hatte dort Salomon Marcus eine Praxis – bis in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 auch Rathenow in das „weltgeschichtliche Ringen gegen das Judentum“ eingreift und eine Zuflucht zerstört wird, die sich der Arzt trotz der vom NS-Staat entzogenen Approbation unbedingt bewahren wollte. Über Stettin, Würzburg, die Lazarette des Ersten Weltkriegs in Gremilly und Verdun, über München und Berlin hatte es Marcus nach Rathenow verschlagen. Am Operationstisch wollte er stehen, als Landarzt fand er ein Auskommen. Nun muss der Wanderer noch einmal los, es geht hinüber nach Steckelsdorf, wo ihn keiner vertreiben wird. Sogar ein eigenes Zimmer im ersten Stock richten sie ihm ein.

In Peter Lilienthals Film werden für David Anfang 1942 die Nachrichten immer bedrückender, der Vater hat Palästina abgeschrieben und versucht nun, seinem Sohn mithilfe eines Bekannten in der Türkei einen Pass und ein Affidavit, die Bürgschaft für eine Einreise, zu verschaffen. David soll sofort zurück nach Berlin, zurück zur Familie. „Ich möchte unter keinen Umständen, dass du weggehst“, so die Nachricht des Vaters am Telefon, womit offenbar gemeint ist: Verschwinde, bevor sie euch wegschaffen.

Zunächst aber steht David am Bett von Salomon Marcus, dessen starre, weit aufgerissenen Augen nichts mehr sehen. Marcus hatte Anordnung, sich zum Abtransport einzufinden, und hat für diesen Fall Vorsorge getroffen. Morphium kann Schmerzen lindern, überdosiert lässt es jedes Leiden auf ewig vergehen. „Jetzt kann ihn auch die Gestapo nicht mehr holen“, flüstert David und gesteht dem Freund Daniel: „Bevor es hell ist, werde ich weg sein. Ich soll sofort heimkommen. Erst wenn sie mich nicht mehr suchen, kannst du sagen, dass das mit dem Türken doch noch geklappt hat.“ Daniel fragt: „Was meinst du, sehen wir uns noch einmal wieder?“ Statt zu antworten, schenkt ihm David ein Foto, auf dem beide lachend, einen Arm auf der Schulter des anderen, im Garten des Landguts stehen. Dann reißt er sich den gelben Stern vom Mantel, und Türen schließen sich, die wie schwere Tore ins Schloss fallen müssten.

Am 21. Mai 1942 erhalten die letzten 53 Bewohner von Steckelsdorf den Umsiedlungsbefehl der Gestapo. Abtransport in drei Tagen. Einen Rucksack und einen Koffer darf jeder mitnehmen, was dort nicht verpackt werden kann, bleibt zurück. Hose, Hemden, Anzüge, Mäntel, Mützen, die Bücher aus der winzigen Bibliothek. Sie lag im Erdgeschoss neben dem Speisesaal und der Veranda, in der ein Gebetsraum eingerichtet war, um bei Sonne in einem lichtdurchfluteten Raum aus der Thora vorlesen zu können im „Kibbuz Hachschara“, wie das Landwerk genannt wurde. Am 24. Mai 1942 um die Vormittagszeit geht es mit Polizeieskorte zum Bahnhof Rathenow, über die Genthiner Straße in Richtung Schwedendamm, ein letztes Mal der Weg, wie ihn die Kohlenholer mit ihrem Handwagen so oft einschlugen. Dröhnend nun das Schlagen der Räder über Schwellen und Gleisen. Am 28. Mai 1942 – das Heim ist seit vier Tagen leer – bestimmt die Oberfinanzdirektion Berlin-Brandenburg das Deutsche Reich zum Eigentümer des Landguts Steckelsdorf.

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