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Zeitgeschichte 1912 | Gartenstadt Falkenberg: Tuschkastensiedlung


Link [2022-04-23 12:15:03]



Gartenstadt statt Mietskaserne – um dem Wohnungselend in Berlin zu entgehen, soll der Stadtrand ein Ausweg sein. Der Architekt Bruno Taut baut am Falkenberg

Ihre Seele habe sich „blaue Flecken“ geholt, klagt Rosa Luxemburg, als sie im Mai 1898 aus München kommend in Berlin auf Zimmersuche geht. Sie will ihr Leben nicht länger an die Heimat, das von Russland beherrschte Polen, verschwenden. Die deutsche Sozialdemokratie, die Partei August Bebels, lohnt den Ortswechsel, ist sie überzeugt. Zunächst aber muss ein Quartier gefunden werden, das pro Tag höchstens eine Reichsmark kostet. Würde es teurer, wäre ihr Budget gesprengt. Es verschlägt die verzweifelt Suchende nach Charlottenburg, dann in die Gegend östlich des Alexanderplatzes. Am Neuen Tor blickt sie den Prenzlauer Berg hinauf und steht auf der Schwelle zum proletarischen Berlin, den Vierteln der Mietskasernen, die aufsaugen, was der Stadt seit der Reichsgründung 1871 an Zustrom williger und billiger Arbeitsnomaden aus Schlesien, Pommern oder Westpreußen widerfahren ist.

1898 zählt Berlin 1,9 Millionen Einwohner – 850.000 waren es, als in Versailles der monarchistische Einheitsstaat proklamiert wurde. Was seither an Wohnmaschinen in Kreuzberg, am Wedding oder Prenzlauer Berg die Menschen drangsaliert, hat mit würdigen Lebensverhältnissen wenig zu tun. In vielen Häusern fehlt der Anschluss an die Kanalisation, ist der Geruch von Kohle und Kohl so unausrottbar wie der nach Urin und Schweiß aus den Gemeinschaftstoiletten im Hof oder aufgeplatzter Putz in den Treppenaufgängen, der wie verschorfte Haut die Wände bedeckt. Wer hier unterkommt, bezieht eine Stube mit Wohnküche und muss nicht selten Schlafburschen nehmen, damit es zur Miete reicht. Schlossereien, Tischlereien, Schlachtereien, Fuhrbetriebe und Pferdeställe bevölkern zwei, manchmal drei Hinterhöfe. Im Sommer sind sie heiß, eintönig und glitschig von Abfall und Kot, im Winter kalt, eintönig und glatt von gefrorenem Dreck.

Für Abhilfe zu sorgen, tut not. Berlins Stadtbaurat Ludwig Hoffmann, bis dahin dank wilhelminischer Repräsentationsbauten auffällig, beobachtet mit Wohlwollen eine um die Jahrhundertwende einsetzende Stadtflucht der Großindustrie, die an der Peripherie preisgünstiges Bauland sucht und findet und dadurch expandiert. Was in der Stadt kaum mehr möglich ist. Die Siemens & Halske AG, dazu die Städtischen Munitionswerke wandern in Richtung Jungfernheide und Spandau, die Berliner Maschinenbau-Actien-Gesellschaft (vormals Schwartzkopff) zieht es aus der Oranienburger Vorstadt nach Wildau im Süden. Borsig, einer der größten Lieferanten von Lokomotiven weltweit, wendet sich nach Tegel. Die AEG bleibt in Moabit. Unentbehrlichen Stammarbeitern winkt mit dem Umzug der Auszug aus prekären Wohnverhältnissen. Erstmals kommen für sie Werkswohnungen und -siedlungen in Betracht. Auch um Arbeitswege zu verkürzen, weil Vorortzüge mit Dampflokomotiven zwar in Betrieb, aber ein unzureichender Vorgriff auf die ab 1924 elektrifizierte, leistungsfähigere S-Bahn sind. Stadtbaurat Hoffmann jedenfalls nutzt die Gunst der Stunde, indem er sich dafür einsetzt, eine dezentralisierte Industrie mit einem dezentralen Wohnen zu verbinden.

Gartenstadt Falkenberg im Südosten Berlins

Insofern trifft es sich, dass um 1900 die Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft für Refugien am Rande der Stadt zu schwärmen beginnt und sich auf Vorbilder in England bezieht. Eine Landschaft der Seen und Wälder rings um Berlin bietet das ideale Bauland. Und mit dem Architekten Bruno Taut – er wird in den 1920er Jahren mit der Hufeisensiedlung in Britz zum Baumeister der sozialen Moderne – findet die Gesellschaft einen Gleichgesinnten und Vollstrecker. Im Frühjahr 1912 zeichnet er erste Skizzen für die Gartenstadt Falkenberg im Südosten Berlins. Was ihm vorschwebt, ist eine Anmutung von märkischer Dorfaue, wie sie Theodor Fontane im Roman Der Stechlin so treffend beschrieben hat. Er wolle eine „Vermählung von Stadt und Land“ vorantreiben, vermerkt Taut. Gewiss keinen Garten Eden, aber ein Idyll schaffen, das „ohne besondere architektonische Scherze zum Gefühl spricht“ und Kleinhäuser in sich aufnimmt, die miteinander leben, um es den kleinen Leuten zu erleichtern, miteinander auszukommen. Damit der Siedlung Monotonie erspart bleibt, stehen die zweigeschossigen Reihenhäuser am leicht ansteigenden Falkenberg und wachsen dem von dichten Baumkronen beschatteten „Akazienhof“ wie einem Dorfkern entgegen. Hier einzuziehen, heißt hintenraus über einen bis 500 Quadratmeter großen Garten für Spalierobst und Blumenrabatten zu verfügen, weshalb Taut mit Ludwig Lesser gar einen „Architekten für Mietergärten“ engagiert. Um Vitalität und Lebenslust auszustellen, werden die Häuser angestrichen und zeigen karmesinrote, taubenblaue oder weißgelbe Fassaden (bis heute wird Bruno Taut als Pionier des farbigen Bauens erinnert). Aus dem proletarischen Milieu verschlägt es bestenfalls überdurchschnittlich verdienende Vorarbeiter in seine Gartenstadt. Zu deren Bewohnern werden eher städtische Beamte oder Angestellte von Großunternehmen, die sich die Mieten des Eigentümers, des Berliner Spar- und Bauvereins, leisten wollen. Allerdings entstehen von den ursprünglich geplanten 1.500 Wohnungen nur 120. Mit dem Ersten Weltkrieg gerät die Finanzierung ins Stottern, das Projekt bleibt unvollendet.

Dennoch soll ein naturgefälliges Wohnen jenseits bedrückender Stadtenge Schule machen und Nachahmer finden. Mitten im Krieg ist die Berliner Gartenstadt zur Stimmungspflege an der Heimatfront und Ertüchtigung derselben gefragt. So beauftragt das Reichsinnenministerium den Architekten Paul Schmitthenner, für die Belegschaft aus den Spandauer Munitionsfabriken bei Staaken im äußersten Westen Berlins eine solche Siedlung zu bauen. Was daraus wird, ist weniger eine ländliche Kolonie, die sich wie am Falkenberg mit der Stadt „vermählt“, als eine Kleinstadt, die das Großstädtische verschmäht. Wo Taut pastoraler Atmosphäre vertraut, versucht es Schnitthenner mit kleinbürgerlicher Maskerade – seine Gartenstadt wird zum architektonischen Sinnbild der Gartenlaube. Statt eines farbigen, heiteren Ambientes kommt die humorlose Strenge des preußischen Backsteins zum Zug, statt eines „Akazienhofes“ unter Bäumen erhält Staaken einen Marktplatz mit Ladenzeile. Zwar gibt es auch bei Schmitthenner das Reihenhaus, doch spießig aufgehübscht mit Accessoires wie Freitreppen vor der Haustür, Blumenerker und romantisierender Gaube im Dachgeschoss. Mit der Gartenstadt Staaken sozial aufsteigen und korrumpiert werden, scheint die Devise zu sein. Aber so ist das eben – Taut baute für einen Verein, Schmitthenner baut für die Regierung.

Zwar werden Berlin an Orten wie Frohnau und Zehlendorf bis 1923 noch weitere Gartenstädte zuteil, doch sind es die Letzten ihrer Art. In den ökonomisch zermürbenden, die öffentlichen wie privaten Bauherren schröpfenden 1920er Jahren schlägt den verspielten Lichtungen im Großstadtdschungel die Stunde der Vergeblichkeit und des Abschieds. Der spätere Reichsaußenminister Walther Rathenau verspottet den Topos Gartenstadt schon 1919 als „Utopie vom Wirklichkeitswert der akardischen Schäfereien Marie Antoinettes“. Und er hat recht. Da in Berlin mittlerweile über drei Millionen Menschen leben, ist eine urbane Architektur gefragt, die das Reihenhaus durch den Wohnblock, den Mietergarten durch die Grünzone oder den Park ersetzt. Wie das mit ersten Großsiedlungen bald auch geschieht. Gemeint sind Agglomerationen, die es mit der Großstadt halten, indem sie auf ihre Weise Großstadt sind. Für die Weiße Stadt in Reinickendorf gilt das ebenso wie für die Siemensstadt an der Jungfernheide (beide gebaut 1929 – 1931). Als „Wohnheimat“ in Berlin bleiben sie bisher unübertroffen.

Vielleicht hätten diese Areale auch Rosa Luxemburg gnädig gestimmt, die Mitte Mai 1898 schließlich ein Zimmer in der Cuxhavener Straße am Tiergarten findet und ihrem Freund Leo Jogiches schreibt: „Ich bin unmenschlich erschöpft und hasse Berlin und die Deutschen schon so, dass ich sie umbringen könnte.“

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