Fürth, 1922. Als die junge, lebenshungrige Emma, Tochter des polizeibekannten Anarchisten Fritz Oerter, eine Stelle als Schreibkraft in der Spiegelfabrik annimmt, findet sie sich bald wieder in den Kämpfen ihrer Zeit. Zwischen Arbeit und Kapital, Republikanern und Antidemokraten, Patriarchat und dem Drängen nach weiblicher Selbstbestimmung. Sie beginnt eine Affäre mit ihrem Chef und stößt per Zufall auf die Spur eines Plans, mit dem elitäre Kreise die Presse zu steuern versuchen. Treibende Kraft der Verschwörung ist der damals auf dem Höhepunkt seines Ruhms stehende Geschichtsphilosoph Oswald Spengler. Emma muss schließlich mehr als nur eine schwerwiegende Entscheidung fällen ...
Der Plot von Leonhard F. Seidls Roman Vom Untergang ist schnell erzählt, doch erschöpft sich das Buch nicht in einer konventionellen Krimihandlung, sondern gestaltet vielschichtige Figuren, die mit authentischer Stimme sprechen. Wir begleiten die Hauptakteure, neben Emma ist das vor allem ihr Freund Max, auf politische Versammlungen, in denen sich Anarchisten und Parteikommunisten turbulente Wortgefechte liefern. Wir werden Zeuge intriganter Vorgänge im Betriebsrat der Spiegelfabrik und belauschen konspirative Treffen von Antidemokraten aus der sogenannten besseren Gesellschaft. Das alles vor dem Hintergrund rechtsterroristischer Attentate auf den Kasseler Bürgermeister Philipp Scheidemann, den Zentrumspolitiker Matthias Erzberg sowie den nationalliberalen Außenminister Walter Rathenau. Nur Scheidemann überlebt den auf ihn verübten Säureanschlag.
Seidl verknüpft die „große Politik“ mit einer Perspektive von unten und aus der süddeutschen Peripherie. Grundlage seiner Erzählung, die auch als Zeitporträt überzeugt, ist eine akribische Recherche, die sich bis in die Details des Alltagslebens hinein erstreckt. Trotz der vielfach eingestreuten Dokumente – vom Zeitungsausschnitt über Personalblätter der Polizei bis zur protokollierten Reichstagsrede – wirkt die auf knapp 250 Seiten erzählte Geschichte an keiner Stelle mit Details überfrachtet.
Viele kleine Szenen machen das Buch lebendig. Wenn der Erzähler schildert, wie ein Entenküken von einer Gans unter Wasser gedrückt wird, Oswald Spengler versucht, einen Fisch auszunehmen, oder der Eintänzer Max sich für seinen nächtlichen Einsatz auf dem Tanzboden parfümiert, sehen wir die Figuren nicht nur plastisch vor uns, wir glauben sie auch zu hören und zu riechen. Das gilt – im deutschsprachigen Roman selten genug – ausdrücklich auch für die wenigen erotischen Szenen, die uns immer auch etwas über die Figuren und ihr Verhältnis zueinander erzählen.
Die Kunst der AussparungStatt sein Historienbild großformatig und in allen Farben auszumalen, übt sich der Autor mit großem Geschick in der Kunst der Aussparung. Womöglich sind es die wohlplatzierten Lücken, die einen Blick auf die komplexen Zusammenhänge, die Verbindung des Kleinen mit dem Großen, erst wirklich ermöglichen. Mit wenigen Federstrichen lässt Seidl die Konturen und inneren Widersprüche der Protagonisten ebenso plastisch hervortreten wie ihre Konflikte untereinander. Wir kommen ihnen nahe, ohne uns mit ihnen identifizieren zu müssen. Auf diese Weise gelingt dem Autor ein Politthriller, der zwar parteiisch ist, Ambivalenzen aber nicht vorschnell aufzulösen versucht.
Vom Untergang ist ein Roman, der nicht nur ausgesprochen gut unterhält, sondern den einen oder die andere darüber hinaus zu eigenen Recherchen anregen könnte. Der Rezensent kann sich ihn als Vorlage für eine Fernsehserie vorstellen, die dann einmal nicht in Volker Kutschers Sündenbabel Berlin, sondern stattdessen in der mittelfränkischen Provinz spielen würde. Mit Charlotte Ritter kann Emma es allemal aufnehmen – so viel steht jedenfalls fest!
InfoVom Untergang – Kriminalroman Leonhard F. Seidl Edition Nautilus 2022, 248 S., 18 €
Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.
2024-11-10 09:35:29