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USA | Die Generalprobe


Link [2022-01-22 19:40:09]



Der Sturm auf das Kapitol ist ein Bruch in der amerikanischen Geschichte. Ein Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit einer vorher schon angeschlagenen Demokratie. Fraglich ist, ob das Land einen zweiten 6. Januar überstehen würde

Ein Jahr ist es her seit dem Ansturm der Donald-Trump-Loyalisten auf das US-Kapitol in Washington. War das ein Putschversuch am 6. Januar 2021 oder „einheimischer Terrorismus“, wie es FBI-Direktor Christopher Wray ausdrückt? Oder närrische Randale eines sich selbst überschätzenden Trump-Kults? Oder kommt ein durchaus verständlicher Protest von Patrioten in Betracht, die sich bedroht und betrogen fühlten, wie die rechte Medienwelt das Geschehene rechtfertigt? Unter dem Strich: Der Ansturm war ein außerordentlicher Vorgang, zugleich wirkten manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer erschreckend normal, gemessen an dem, was das politische Klima in den USA ausmacht.

Zettel auf den Schreibtisch

Es ist schlecht bestellt um die amerikanische Republik und die Demokratie. Die Lüge von den „gestohlenen Wahlen“ hat sich tief hineingefressen in die Gesellschaft, genauer, in die weiße Gesellschaft. Der 6. Januar und das bei Republikanern vorherrschende Bestreiten der „Legitimität“ von Präsident Joe Biden könnten als Generalprobe für die Vorbereitung auf künftige Manipulationen von Wahlergebnissen gelten. Bidens Demokraten sind uneins über das Ausmaß der Bedrohung. Nur vereinzelt läuten Alarmglocken. Der fotogene „Schamane“ mit Hörnern, Pelz, Flagge und einem mit lauter nordischen Symbolen tätowierten Oberkörper darf nicht fehlen im Sammelsurium der Bilder von diesem Tag, an dem Donald Trump an seine Getreuen appellierte, sie müssten „die Demokratie retten“ und „höllisch kämpfen“. Der Mann mit dem eigenwilligen Kopfschmuck heißt Jacob Chansley. Er feuerte Gesinnungsgenossen im Kapitol mit dem Megafon an. Man solle die „Kommunisten, die Globalisten und die Verräter in unserer Regierung“ loswerden, verkündete Chansley und legte dem damaligen Vizepräsidenten Mike Pence angeblich einen Zettel auf den Schreibtisch: „Es ist nur eine Frage der Zeit, Gerechtigkeit kommt.“ Pence sollte den Vorsitz haben bei der Kongresssitzung am 6. Januar, die Bidens Wahlsieg durch die Auszählung der Stimmen des Wahlmännergremiums, des Electoral College, formell zu bestätigen hatte. Die Randale sollte das verhindern. Chansley wurde festgenommen und im November 2021 zu 41 Monaten Haft verurteilt.

Staatsanwälte haben Anklage erhoben gegen mehr als 700 mutmaßliche Kapitol-Stürmer, die meisten weiße Männer. Gewaltbereitschaft braucht keine Hörner. Bei nur einem kleinen Anteil der Angeklagten wisse man von direkten Verbindungen zu rechtsextremen Gruppen wie den „Proud Boys“ und „Oath Keepers“, heißt es in der Onlinedatei eines Hörfunksenders. Politikwissenschaftler Robert Pape, Leiter des Chicago Project on Security and Threats, eines Vorhabens zur Extremismusforschung an der dortigen Universität, kam bei seiner Analyse der Angeklagten zu dem Schluss, man habe es hier mit einer neuartigen Bewegung zu tun. Viele seien gestandene Leute aus der Mittelschicht. Im Unterschied zum „typischen Extremisten“ hätten die Festgenommenen viel aufs Spiel gesetzt, schrieben Pape und Projektmitarbeiter Keven Ruby im Magazin The Atlantic. „Sie sind CEOs, Geschäftsinhaber, Ärzte, Rechtsanwälte, IT-Spezialisten und Buchhalter.“ Bei Erhebungen in der Vergangenheit sei man bei Rechtsextremisten hingegen auf zahlreiche junge und häufig arbeitslose Männer gestoßen, die eher aus Landkreisen mit rückläufiger weißer Bevölkerung gekommen seien. Unter den Angeklagten sind laut einer Aufstellung des National Public Radio (NPR) die Eigentümerin des Kosmetikstudios Gina’s Eyelashes and Skincare im kalifornischen Beverly Hills, die laut FBI bei ihrer „Wir-brauchen-Gasmasken-wir-brauchen-Waffen“-Ansprache einen Louis-Vuitton-Pullover trug. Dazu ein 25-Jähriger aus Taylor in Michigan, der nach eigenen Angaben große Wut verspürte auf das Establishment, ein Lastwagenfahrer aus Winchester in Virginia, ein Schusswaffenhändler aus Versailles in Missouri, der Besitzer eines Haushaltsgeschäftes in Montana, ein Ehepaar aus Pilot Mountain in North Carolina (sie trug ein „Fuck-Gun-Control“-Sweatshirt), der Arbeiter einer Gärtnerei aus Moorhead in Minnesota, ein 53-jähriger Veteran, der auf Facebook von einem kommenden Bürgerkrieg gepostet hatte, und ein ehemaliger Polizist aus San Clemente in Kalifornien. Viele Festgenommene haben ihre Teilnahme in sozialen Medien dokumentiert. Das FBI soll mehr als 200.000 Hinweise erhalten haben.

Nach 14 Uhr an diesem 6. Januar flohen die Abgeordneten und Senatoren vor mit Elektroschockern, Fahnenstangen, Stöcken, Feuerlöschern und Reizspray ausgerüsteten Sturmtrupps. Rund 140 Polizistinnen und Polizisten wurden verletzt. Trump hatte in seiner Ansprache beklagt, Mike Pence habe nicht den Mut, sich dem angeblichen Wahlbetrug zu widersetzen. Gegen 18 Uhr, die Chaosbilder liefen seit Stunden im Fernsehen, schrieb Trump auf Twitter, „so etwas passiert“, wenn den Patrioten „ein heiliger Erdrutschsieg“ gestohlen werde. Zwei Stunden später war das Kapitol geräumt, und der Kongress trat wieder zusammen. Die überwältigende Mehrheit der republikanischen Abgeordneten stimmte trotz der erlebten Gewalt gegen die Anerkennung der Wahl. Nach drei Uhr am nächsten Morgen gab Pence bekannt, Joe Biden habe im Electoral College die erforderliche Mehrzahl der Stimmen erhalten.

Demokratische Politikerinnen und Politiker sowie Medienkommentare erklärten vor einem Jahr erleichtert, das demokratische System habe funktioniert. Schließlich war die Nationalgarde, wenn auch verspätet, im Kapitol aufgetaucht. Das zerschmetterte Glas wurde zusammengekehrt.

Es fehlte nicht viel

Bekanntermaßen absolvierten die USA zwei Wochen nach dem Aufstand das Ritual der Amtseinführung des gewählten Präsidenten. Lady Gaga sang die Nationalhymne und Jennifer Lopez This Land is your Land. Die USA stünden an einem „historischen Punkt“ von Krise und Herausforderung, sagte Biden. Es fehlte wohl gar nicht allzu viel an einem anderen Verlauf der Ereignisse. Trump scheiterte an unerwartetem Widerstand. Pence war vier Jahre lang unterwürfiger Lakai gewesen, bevor er am 6. Januar nicht mitspielte. Justizminister Bill Barr hatte Trump in Schutz genommen vor dem Bericht von Sonderermittler Robert Mueller, gab nach der Wahl vom 3. November 2020 jedoch bekannt, sein Ministerium finde keine Hinweise auf Betrug, die groß genug seien, um den Wahlausgang zu verändern. Im Staat Georgia kam der republikanische Wahlleiter einem flehenden Trump-Anruf nicht nach, „11.780 Stimmen zu finden“, die zum Sieg reichen würden. Richter haben mehr als 50 Wahlbetrugsklagen der Trump-Kampagne zurückgewiesen. Zu fantastisch erschien ihnen offenbar die These von massivem Betrug. Der von Trump neu besetzte Oberste Gerichtshof zog ebenfalls nicht mit. Und ausgerechnet der verlässlich Trump-freundliche Nachrichtensender Fox hatte am Wahlabend als erster berichtet, Biden habe im entscheidenden Staat Arizona gewonnen.

Die Demokraten und die Justiz tun sich schwer mit dem Ansturm auf das Allerheiligste der Demokratie, als dürfe es in einer vermeintlich vorbildlichen Demokratie nicht wahr sein, dass ein Wahlverlierer den Umsturz will. Die meisten Strafen für die Kapitol-Stürmer fielen bisher wesentlich milder aus als die für den mutmaßlichen Schamanen Jacob Chansley. Republikanische Politiker folgen bis heute dem Vorbild ihres Anführers und wollen die Gewalt nicht verurteilen. Oder sie tun so, als habe es gar keine Gewalt gegeben. Selbst Ex-Vizepräsident Pence sagt im Sender Christian Broadcasting Network trotz der am 6. Januar hörbaren „Hängt-Mike-Pence“-Rufe, er werde es „den Demokraten und den nationalen Medien nicht erlauben, mit dem tragischen Tag im Januar“ die Millionen Trump-Wähler zu verunglimpfen.

Ein Kongressausschuss ermittelt mit begrenzter Resonanz. Der Vorsitzende Bennie Thompson strebt angeblich einen Bericht für das Frühjahr an. Manche Vorgeladene wie Trumps Berater Steve Bannon verweigern die Aussage. Ein Gericht in Washington will sich erst im Juli mit ihm befassen. Im November wird schon wieder gewählt, die Demokraten könnten die Mehrheit im Kongress verlieren – und aus wäre es mit Thompsons Ermittlungen. Ob die US-Demokratie bei einem nächsten Mal erneut davonkommt? Es fehlt bei den regierenden Demokraten ein Gefühl der Dringlichkeit. Mehrere republikanisch regierte Bundesstaaten arbeiten an Vorschriften, die es Regierungsvertretern erlauben würden, mehr Einfluss zu nehmen auf den Wahlmodus und auf das Auszählen der Stimmen. Werden diese Reformen kombiniert mit dem „Volkszorn über gestohlene Wahlen“, könnte es das nächste Mal klappen mit dem Annullieren eines Wahlergebnisses.

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