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Urbizide | Kriegsmittel „Urbizid“: Über die Zerstörung der Städte


Link [2022-04-04 14:34:34]



Von Mariupol gingen in den letzten Wochen Bilder von zerstörten Häuserfronten, ausgebrannten Autos und zerbombten Infrastruktur um die Welt. Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn die Städte ausgelöscht werden?

Wie lange braucht es, damit aus einer blühenden Stadt eine Wüste, aus einer Wüste eine blühende Stadt wird? Die Zerstörung Trojas durch die Griechen beanspruchte Jahre, aber doch weniger Zeit, als Vergils Held Aeneas brauchte, um an die Gestade des antiken Latium zu gelangen, wo er Alba Longa, die Vorgängerstadt Roms gründete, das wiederum hundert Jahre später erstand. Städte, das erkennt man, zeugen sich fort, nicht immer geht ihre Geschichte dort weiter, wo sie gerade durch Menschenhand beendet worden ist. Das gilt auch für das zweieinhalbtausend Jahre später von Briten zerbombte Alexandrien, nachdem sich dort Orabi Pasha dem Ansinnen der Europäer, den Eingang zum gerade ausgehobenen Suezkanal allein zu bestimmen, widersetzte. Auf die Schiffskanonaden folgt eine brutale Invasion, der Reichtum der Stadt wird in wenigen Tagen geplündert. Dem Dichter Konstantinos Kavafis gelingt mitsamt seiner Familie die Flucht, das Ende der Stadt signiert das Ende seiner Kindheit. Immer wieder wird er auf diesen Moment zurückkommen: „Geh festen Schritts zum Fenster /.../ und verabschiede Dich von Alexandrien, das Du verlierst vor Deinen Augen“.

Verlust ebenso wie die Verinnerlichung der Städte gehören zur Epoche forcierter Geopolitik, zu anschließenden ethnischen Säuberungen und Umsiedlungsprogrammen. Die im Zweiten Weltkrieg zerstörten Städte Dresden oder Hiroshima sind dagegen für ihre überlebenden Bewohner jeweils wieder aufgebaut worden, was angesichts zeitgenössischer Fotografien unvorstellbar erscheint. Der Fluss, in dem die lebenden Fackeln nicht erlöschen, der auf der Treppe eingebrannte Schatten – die genannten Städte sind Synonyme für apokalyptische Visionen geworden, die einige Jahrzehnte danach musealisiert wurden. Und doch bleibt diesen Städten ihr durch den Tourismus nur verschattetes Trauma eingeschrieben.

Von den zerstörten Städten kommt man selten los. Nicht einmal Aeneas gelang dies. Und mitunter ist unwesentlich, wodurch die Katastrophe eintrat. Menschen, deren gesamtes Lebensumfeld durch ein Erdbeben kollabiert ist, suchen nicht das Weite, sondern fordern staatliche Wohnungsprogramme, um in der Nähe ihres Unglücks ausharren zu dürfen. „Say goodbye to Alexandria lost“, diese Umschrift von Kavafis’ Gedicht in Leonard Cohens Liebeslied wird in ihren Köpfen nicht gespielt. Oft genug wollen diese Menschen bei ihren Toten bleiben, oft kommen sie aber auch darüber nicht hinweg, dass das Unglück sie ausgespart hat. Sie rächen sich an ihm, indem sie ihm nicht den Rücken kehren.

Grosny, Aleppo, Mariupol

Welche Zukunft nun wird die ukrainischen Städte erwarten? Von Mariupol gingen in den letzten Wochen Bilder um die Welt, die zerstörte Häuserfronten, ausgebrannte Autos, zerbombte Infrastruktur zeigten. Schwarzer Rauch steht über einer Markthalle, die schon lange nicht mehr genutzt wurde, leere, furchtvergessene Gesichter schauen aus Textil- und Papierhaufen, der Zivilschutz mahnt die Leute zur Eile. Im Bauch des neoklassizistischen Stadttheaters hatten sich mehr als Tausend Frauen und Kinder vor den russischen Angriffen sicher geglaubt, so sicher, dass sie es die Piloten wissen ließen – auch das Theater ist nun pulverisiert, die Hälfte der Schutzsuchenden mutmaßlich tot. Dass dies eine Stadt gewesen sei, gleichermaßen von Russen und Ukrainern bewohnt (sodass ihre Bombardierung nur mehr belegt, wie wenig man in Moskau die eigene Volksgruppe zu schonen geneigt ist), mit einer halben Million Einwohner, einer für die Schwarzmeerregion typischen, mehr als 200 Jahre alten multiethnischen Geschichte (nebst muslimischer Moschee), sieht man den Bildern nicht an. Die Bomben haben das Besondere getilgt und den Ort ins Archiv der Zerstörung geschoben, wo eine Wüste der anderen gleicht. Große Teile der Zivilbevölkerung warten darauf, die Bunker und Krater verlassen zu können, mit Kranken und Alten auf dem Rücken, wie einst Aeneas, fortzuziehen. Angesichts der russischen Taktik, die Städte, in die einzudringen offenbar das Heer nicht ausgebildet ist, ringartig einzuschließen, zu beschießen und auszuhungern, wird man sagen, dass ein Kriegsmittel Moskaus im „Urbizid“ besteht. Dafür braucht es weder großen Mut noch technische Präzision, nur grausame Geduld und ausreichend Munition. In Grosny und Aleppo hat man dafür geübt.

Als Michael Moorcock 1963 den Begriff des „Urbizids“, des Stadtmords, kreierte, wollten er und andere Stadtsoziologen ihn eigentlich für die Gewalt der Umstrukturierung und Ghettoisierung in westlichen Metropolen reservieren. Also für Eingriffe, die häufig aus der Perspektive der administrativen Eliten angeordnet werden und die die subkutane Verflechtung, den Lebensnerv eines Ortes – oft genug kennt man ihn nicht, bevor man ihn durchschneidet – zerstören. Verkehrsknotenpunkte, Plätze, Boulevards, aber auch Schulen, Krankenhäuser, Parks machen aus einer Stadt mehr als eine Siedlung, sie verleihen ihr historische und räumliche Perspektive, und sie vermitteln zwischen der Intimsphäre des Einzelnen, seinem Selbstbild, seinen Wünschen – und dem Raum, in den er sie hineinträgt. Urbizide sind Angriffe auf das Leben selbst, auf seine Möglichkeit, sich zu regenerieren. Sie sind Früchte des Hasses nicht weniger als des Weltverlusts: dort, wo Eliten oder Militärs an Modellen operieren, die das Wirkliche nur vertreten.

Städte seien, so der Kolumbianer Eduardo Mendieta, „lebende Gebilde“, deren Werden und Vergehen sich rationaler Planung entziehen. Dennoch scheint es verwundbare Zonen zu geben, an denen man eine Stadt so treffen kann, dass sie danach „tot“ ist, ihre Wiederbelebung künstlich erscheint, man eine Art zweiter Stadt um die tote zu errichten hat. Urbizide sind also auch Historisierungsmaschinen, in einem Eroberungskrieg bereiten sie die Kolonialisierung der kollektiven Erinnerung an der Stelle vor, wo die spätere Macht sich ansiedeln wird. Dem Urbizid zu entgehen, das vermögen indes die Menschen, die die gemordete Stadt in sich an einen anderen Ort tragen und dort wiedererstehen lassen. So könnte es sein, dass man sich aus ihrer Umklammerung und sie aus der Umklammerung ihrer Zerstörer befreit. Die klassische und die moderne griechische Literatur stehen dafür ein. In Mariupol, heißt es, lebten zuletzt 10.000 Griechen.

Das Beispiel Sarajevo

Eine Stadt, deren Schicksal als beispielhaft für „Urbizid“ gilt, ist Sarajevo. Auch hier handelt es sich um eine multiethnische Stadt, in der Serben und vor allem muslimische Slawen zusammenlebten. Sarajevo ist in Europa zum Inbegriff für das 20. Jahrhundert geworden, dessen Anfang hier mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs – ausgebrochen wegen des tödlichen Schusses auf den österreichischen Thronfolger – und dessen Ende mit der Renationalisierung der jugoslawischen Teilrepubliken eingeläutet wurde. Die dabei mobilisierten Kategorien von Nationalstaat, Einflusssphären, Geopolitik verdeutlichen, dass trotz aller Verflechtungsbemühen die global wirksamsten Kräfte in der Fragmentierung stecken, kurz: dass sich das 19. Jahrhundert mit den Waffen des 21. Geltung zu schaffen versucht.

Am Morgen, als die Invasion in die Ukraine begann, besuchte ich zufällig das Viertel San Giovanni am Stadtrand von Triest. Es besitzt eine gewisse Berühmtheit aufgrund eines Therapiedorfes, das die psychiatrischen Anstalten in Italien ablöste. An der Schwelle von West- und Osteuropa entwickelte sich hier vor vierzig Jahren ein Modell demokratischer Partizipation und institutionalisierter Empathie. Sinnbild dafür war ein ausgemustertes Pferd, das in Prozessionen durch die Stadt geführt wurde. Heute gibt es in diesem Therapiedorf eine Art Wartehäuschen, in unschuldigstem Weiß und schmerzhaft glühendem Rot, auf dessen Innenwänden zwei Gedichte – eines von Abdulah Sidran, eines von Marko Vešović – über und mit Sarajevo sprechen. Die Installation erinnert an die traumatisierten Flüchtlinge, die in San Giovanni behandelt wurden, zugleich daran, dass es wichtig ist, sich durch Rituale kleine Schutzhütten zu bauen, wenn man ansonsten kaum Boden unter die Füße bekommt. Ein Gedicht kann ein solches Ritual sein.

Man kann es wie eine Maske aufsetzen, um wie Marko Vešović gleichsam von außen die eigene Ohnmacht zu betrachten: „Aber zu wissen, wer Du bist, wenn überhaupt / ist das Privileg des Opfers. Zu wissen, wie viel Du / erträgst, ohne zu Bruch / zu gehen ... / Diese Erfahrung ist das Schwert, das wir nicht häufig / aus der Scheide ziehen. Ich wenigstens, werde meine Hand / an seinem Griff halten.“

Nur bleibt die Frage, ob diese Selbsterkenntnis den Kriegen ein Ende setzen kann.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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