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Ungleichheit | Scholz und Vorurteil


Link [2022-04-26 09:38:09]



Worum geht es im Kampf gegen Klassismus: Um Arbeit und Ausbeutung? Oder um Diskriminierung und Anerkennung? Beides! Ein Plädoyer für einen schillernden Begriff

Was fällt Ihnen ein, wenn Sie das Wort „Mittelklasse“ hören? Wer in einer deutschen Fußgängerzone wahllos Menschen anspricht und ihnen diese Frage stellt, wird sich eher in einen netten Plausch über Autos vertiefen als in eine kontroverse Diskussion über soziale Ungleichheit. Und das, obwohl wieder vermehrt über das gesprochen wird, was früher als „Soziale Frage“ bekannt war. In Wissenschaft, Medien und Kunst ist „Klasse“ kein unbekannter oder unerwünschter Begriff mehr. Zur Wahrheit gehört aber auch: eben nur dort. Denn außerhalb intellektueller Debatten, also im Vokabular großer Parteien und Verbände oder in der Alltagssprache, spielt diese soziologische Großkategorie entweder keine Rolle, oder aber sie gilt als Relikt längst überwundener Zeiten.

Selbst in populären Sachbüchern, die den Begriff im Titel tragen, ist ein Unbehagen enthalten. Der Journalist Ronen Steinke, von dem kürzlich die Streitschrift Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz erschien, gesteht einleitend: „Das Wort ‚Klasse‘ kommt mir schwer über die Lippen. Es klingt nach einer Vereinfachung eines Problems, das viel komplexer ist.“ Sie ist zurück, die gute alte „Klasse“. Von ihr ist aber selten im marxistischen Sinn die Rede als Manifestation des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit. Durchgesetzt hat sich ein weit gefasstes Verständnis, das alle Kämpfe um Teilhabe auch jenseits der ökonomischen Sphäre als Klassenkämpfe begreift. Gemeint sind nicht mehr nur Arbeit und Ausbeutung, sondern auch Diskriminierung und Anerkennung.

Klassismus ist der älteste Diskriminierungsbegriff überhaupt

Hier knüpft ein Konzept an, das sich in den Diskurs geschlichen hat. Wer noch vor kurzer Zeit bei einer Suchmaschine im Internet „Klassismus“ eingab, erhielt den Korrekturvorschlag „Klassizismus“. Damit ist es nun vorbei. Sogar die künstliche Intelligenz hat gelernt, dass es sich beim Klassismus nicht etwa um eine Kunstepoche handelt, sondern um klassenbezogene Ungerechtigkeit. Es geht analog zu Begriffen wie Rassismus und Sexismus sowohl um das Zurückweisen der Abwertung etwa finanziell benachteiligter Menschen als „Sozialschmarotzer“ als auch um die Kritik beispielsweise am deutschen Bildungssystem, in dem es stark vom Konto- und Vermögensstand der Eltern abhängt, ob ein Kind studieren kann. Vergangenes Jahr setzte dazu eine Publikationswelle auf dem Buchmarkt ein, parallel begann eine Feuilletondebatte um den scheinbar neuen Begriff.

Tatsächlich jedoch ist Klassismus der älteste Diskriminierungsbegriff überhaupt. In den 1840er Jahren bezeichnete der britische Sozialreformer Samuel Bamford in Passagen aus dem Leben eines Radikalen die strukturelle Benachteiligung aufgrund einer unteren Klassenzugehörigkeit als „classism“. Der Begriff fand jedoch erst in den 1970er Jahren in den politischen Aktivismus. Das Lesbenkollektiv The Furies benannte damit die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft und verband den Feminismus mit dem Klassenkampf. Ähnliches taten kurz darauf Gruppen des Schwarzen Feminismus, die Engagement gegen Sexismus, Rassismus und Klassismus zusammenführten. Und doch dauerte es bis zum Jahr 2009, ehe in Deutschland mit Klassismus. Eine Einführung im Unrast-Verlag eine Monografie zum Thema erschien. Heike Weinbach und Andreas Kemper beschreiben in ihrem kleinen, aber feinen Standardwerk die Geschichte des Begriffs und weisen nach, wie verbreitet das Phänomen auch bei uns ist. Inzwischen haben sich an vielen Universitäten sogar Arbeiterkinderreferate gegründet.

Dass ausgerechnet jetzt immer häufiger von Klassismus die Rede ist, hat einerseits mit der Rückkehr des Sozialrealismus in Literatur und Kino zu tun. Viel wichtiger dürften aber die Erfahrungen mit der Pandemie seit 2020 sein. Hier sind soziale Unterschiede sogar jenen ersichtlich geworden, die bis dahin vehement das Ausmaß von Elend und Armut in diesem reichen Land leugneten. Während der Lockdowns machte es einen Unterschied, ob man die sonnigen Tage im Eigenheim mit Garten im Homeoffice verbrachte und die Kinder mit je eigenen Laptops und Zimmern via Internet die gymnasiale Schulbildung genießen ließ, oder ob man als alleinerziehende Reinigungskraft in Zwangskurzarbeit in der Zweizimmerwohnung ohne Balkon bei gesperrten Spielplätzen und mit technisch schlecht ausgestatteten Schulkindern verbringen musste.

Wenn Deutungskämpfe zu Klassenkämpfen werden

Es gibt also eine Marktnische, in die bereits einige Publikationen vorgestoßen sind. Zuletzt erschienen etwa die Sammelbände Solidarisch gegen Klassismus, Klassen sehen. Soziale Konflikte und ihre Szenarien (beide bei Unrast), Klassenfahrt. 63 persönliche Geschichten zu Klassismus und feinen Unterschieden (Edition Assemblage), Klassismus und Wissenschaft (BdWi-Verlag) und die vom Autor dieser Zeilen mitherausgegebene Anthologie Klasse und Kampf (Claassen). Im Sommer veröffentlicht Freitag-Autorin Marlen Hobrack das Buch Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet (Hanser Berlin). Bereits im März kam von Francis Seeck eine neue Einführung in den Klassismus heraus, unter dem Titel Zugang verwehrt (Atrium).

Manche Exponenten medial zuletzt viel beachteter Themen wie Rassismus und Sexismus fürchten sich im Wettbewerb um Debattenräume vor einer Art Opferkonkurrenz. Im Februar 2021 berichtete der Regisseur Thomas Ostermeier in einem Interview mit der Zeitschrift Theater der Zeit, was geschah, nachdem er in einem Seminar mit Regiestudierenden bei einer Diskussion um Gendergleichheit und Rassismus den Begriff des Klassismus ins Spiel gebracht hatte: „Eine der Studentinnen entgegnete, das sei ein typischer Diskurs von weißen männlichen Heteros, der letztlich nur die anderen Formen der Diskriminierung verwässern und ihnen die Gelegenheit geben wolle, sich selbst auch als Opfer der Gesellschaft darzustellen.“

Je tiefer man sich in die Debatten um Klassismus hineinbegibt, umso emotionaler wird es. Das hat mit persönlicher Betroffenheit und Scham zu tun; auch damit, dass im digitalen Zeitalter mit einer abstiegsbedrohten Mittelklasse eben auch Deutungskämpfe zu Klassenkämpfen werden. In linken Zeitungen wie der Jungen Welt, aber auch in konservativen und liberalen Medien wie FAZ, Zeit und Spiegel erschienen Texte, die den Klassismusbegriff als unwissenschaftlich abqualifizieren und als Versuch verstehen, alten Wein in neuen Schläuchen zu verkaufen. Die meisten Wortmeldungen eint ein Kritikpunkt, der als Achillesferse jeder linken Identitätspolitik gelten kann: Der Fokus auf dem Aspekt der Diskriminierung bekämpft Vorurteile, anstatt gegen das vorzugehen, was diese Vorurteile erzeugt. Ein Nutzen des Begriffs liegt dagegen aus Sicht seiner Befürworter in der Eingängigkeit. Sobald wieder mehr Menschen akzeptiert haben, dass Deutschland eine Klassengesellschaft sei, ließe sich der Klassismusbegriff für Slogans und Kampagnen nutzen, die an ihrer Abschaffung arbeiten.

Miese Löhne? Egal!

Das klingt überzeugend, reicht aber noch nicht aus, um den Begriff emanzipatorisch aufzuladen. Olaf Scholz, der die Agenda 2010 noch nie infrage stellte, ließ im Oktober 2020 auf seinem Account bei Twitter mitteilen: „Progressive Politik muss auch den Klassismus ansprechen, also den Mangel an Respekt gegenüber vielen, die hart arbeiten.“ Die Initiative „Soziale Herkunft: Die 7. Dimension“ ist ein Teil der vom Kanzleramt unterstützten „Charta der Vielfalt“, in der sich Unternehmen verpflichten, ihre Belegschaft nicht zu diskriminieren. Die Klassenfrage wird hier zum Diversity-Faktor degradiert. Ein Betrieb gilt demnach als diskriminierungsfrei, wenn Chefs die Untergebenen im Ton respektvoll behandeln und über eine diverse Belegschaft verfügen. Ob sie den Diversen miese Löhne zahlen, befristete Arbeitsverträge ausstellen oder die Wahl von Betriebsräten blockieren, ist dabei egal.

Beim Klassismus gibt es ein schwer lösbares Kategorienproblem. Menschenrassen existieren nicht. Dem Antirassismus geht es also darum, dieses Phantasma zu dekonstruieren und Menschen in ihrer ethnischen oder kulturellen Besonderheit zu akzeptieren. Der Feminismus setzt sich unter anderem für die Anerkennung von Frauen und LGBTQIA ein. Wer sich dagegen in einer unteren sozialen Klassenlage befindet, möchte nicht in seiner Besonderheit anerkannt werden, sondern diese Klassenlage loswerden.

Millionen Menschen in Deutschland müssen ihr Einkommen mit Hartz IV aufstocken, obwohl sie nicht arbeitslos sind. Die Steuern wurden in den vergangenen drei Jahrzehnten für das obere Drittel der Einkommen gesenkt, für die untere Hälfte stark erhöht. Nur etwa 20 Prozent aller Arbeiterkinder studieren, aber mehr als 70 Prozent der Akademikerkinder. All das ist bekannt, und doch bleiben Zahlen oft abstrakt. Es gibt kaum Studien, die sich der subjektiven Seite der Armut nähern.

Dabei wäre gerade das wichtig. Ein zentraler Grund, warum literarische Erzählungen über das Aufwachsen in Armut aus erster Hand derzeit so viel gelesen werden, liegt genau darin: Offenbar treibt viele Menschen die Frage um, wie es sich „anfühlt“, wenn am Ende des Geldes noch zu viel Monat übrig ist und kein dauerhaft gutes Leben möglich ist. Man kann das als Voyeurismus abtun – oder sich freuen, dass ein Bewusstsein dafür entsteht, wie brutal sich ungerechte soziale Verhältnisse auf Lebenschancen auswirken. Das Klassenhafte an der Mittelklasse lag jahrzehntelang gerade darin, dass sie die Existenz der Klassengesellschaft leugnete. Diese ideologische Gewissheit ist ins Wanken geraten. Ein richtig konzipierter Begriff des Klassismus könnte sich in dieser Gemengelage als Diskursbeschleuniger erweisen, weil er die Gewalt der Klassengesellschaft aus der Perspektive von unten erfahrbar macht.

Christian Baron ist Autor des Freitag. 2020 erschien von ihm das Buch Ein Mann seiner Klasse (Claassen)

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