Politics >> Der Freitag


Ungleichheit | „Özdemir sei Dank!“


Link [2022-01-22 19:40:09]



Unter den steigenden Preisen leiden vor allem Geringverdiener. Für Ulrich Schneider gehören Ökologie und Soziales zusammen, weshalb er sich über Inflations- und Fleischpreisdebatten freut. Sein Credo: Wir müssen endlich über Hartz IV reden

Jede neue Meldung über steigende monatliche Inflationsraten führt derzeit zu Schnappatmung bei Bild-Zeitung und der Wirtschaft. Dabei sind es Geringverdiener und Hartz-IV-Bezieher, die unter dem Kaufkraftverlust und dem Anstieg der Energiekosten am meisten leiden – das sagt der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider.

der Freitag: Herr Schneider, die Strompreise steigen dramatisch an, die Antwort der Jobcenter ist: Man verschickt Faltblätter dazu, wie man Strom sparen kann. Überrascht Sie das?

Ulrich Schneider: Nein, das ist ein Ausdruck der Hilflosigkeit. Die Jobcenter wissen genau, dass die Stromkosten im Regelsatz unterbewertet sind, dass Singlehaushalten und Familien ein Drittel der Stromkosten fehlt und dass jetzt eigentlich eine politische Intervention notwendig wäre, um die Regelsätze klar und deutlich anzuheben.

Wir hatten 2021 eine Inflationsrate von 3,1 Prozent. Nun wurde der Hartz-IV-Regelsatz von 446 Euro zu Jahresbeginn um 0,76 Prozent – das sind drei Euro – angehoben. Sie sagen, die Erhöhung sei verfassungswidrig. Warum?

Nach dem Grundgesetz muss der Regelsatz das Existenzminimum abdecken. In dem Moment, in dem die Preise stärker steigen als der Regelsatz, wird nach Adam Riese automatisch das Existenzminimum unterschritten. Damit ist der Regelsatz dann nicht mehr verfassungskonform.

Die Erhöhung um drei Euro gleicht nicht mal die Inflation aus. Wären Sie damit zufrieden, wenn man den Satz um 13 Euro im Monat erhöhen und sagen würde, damit ist der Kaufkraftverlust ausgeglichen?

Wir hatten im November eine Inflationsrate von 5,2 Prozent. Selbst wenn es nur darum ginge, die Preissteigerung aufzufangen, bräuchte man also eine Erhöhung der Regelsätze um rund fünf Prozent. Nun ist es aber so, dass die Regelsätze an sich schon wesentlich zu niedrig angesetzt sind. Wir brauchen eine Erhöhung auf deutlich über 600 Euro, um wenigstens den Mindestbedarf sicherzustellen.

Es heißt, die Inflation trifft die Ärmsten am härtesten. Warum schreien trotzdem die Sparer lauter? Warum hört man von Wohlhabenden die lautesten Klagen über Kaufkraftverluste?

In der Tat schreien jene am lautesten über die Inflation, die die Inflation eigentlich gar nicht merken. Weil sie so ein hohes Einkommen haben, dass bei ihnen die Inflation nur die Sparquote tangiert, im Alltag müssen diese Menschen auf nichts verzichten. Wahrscheinlich schreien sie übrigens genauso laut wie allen anderen, man hört sie nur besser, weil sie eine bessere Lobby und einen besseren Draht zu den Medien haben.

Zur Person

Imago/Ipon

Ulrich Schneider, 63, ist Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, zu dem Organisationen wie die Volkssolidarität, die Tafeln und der Arbeiter-Samariter-Bund gehören

Emmanuel Macron hat wegen des Anstiegs der Gaspreise Einmalzahlungen an Ärmere veranlasst. Haben wir in Deutschland – anders als in Frankreich – das Pech, dass wir die Wahl schon hinter uns haben?

Das würde ich nicht sagen. Heute habe ich erfahren, dass wir zum Vorschlag eines Heizkostenzuschusses für Wohngeldbeziehende Stellung nehmen sollen, den das Wohnungsministerium ausarbeitet. Das ist unterstützenswert. Auch wenn wir fordern, dass steigende Energiepreise dauerhaft in die Berechnung des Wohngelds einfließen sollten.

Liegen der Ampel die Armen am Herzen?

Es steht einiges im Koalitionsvertrag, was armutspolitisch Relevanz hat, etwa die Pläne für eine Verbesserung des Wohngeldes und des BAföG oder die Kindergrundsicherung. Wenn man sich allerdings zu der Formulierung hinreißen lassen wollte, die Armen lägen dieser Bundesregierung am Herzen, dann hätte da auch zwingend eine deutliche Erhöhung der Regelsätze für Hartz IV und für die Altersgrundsicherung drinstehen müssen. Die Grünen sind damit in den Wahlkampf gezogen, konnten sich aber bei den Koalitionsverhandlungen in diesem Punkt offensichtlich nicht durchsetzen. So ist es bei der harten Linie des Arbeitsministeriums geblieben, bei den Regelsätzen so wenig zu verbessern wie möglich.

Finden Sie bei dieser neuen Bundesregierung mehr Gehör für Ihre Anliegen als bei der Vorgängerregierung?

In der Großen Koalition wurde seitens der SPD immer auf den Koalitionspartner verwiesen, mit dem gewisse Dinge nicht möglich seien. Diese Ausrede greift jetzt nicht mehr. Aber in der Ampel haben wir mit unserer Forderung nach einer echten Überwindung von Hartz IV eindeutig die größte Unterstützung bei den Grünen gehabt, die sich auch nicht gescheut haben, eine Erhöhung des Regelsatzes auf 600 Euro und eine Abschaffung der Sanktionen zu fordern. Sie sind jetzt auch der Ansprechpartner in der Bundesregierung, auf den wir setzen.

Olaf Scholz hat im Wahlkampf versprochen, es werde eine „realistische Bedarfsberechnung“ für Hartz IV geben. Kommt die noch?

Ich habe meine Zweifel. Diese sogenannten Bedarfsberechnungen erfolgen ja auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Die nächste Einkommens- und Verbrauchsstichprobe wird aber erst im Jahr 2023 erhoben, danach muss sie ausgewertet werden, und dann kommt erst die Neuberechnung der Regelsätze. Aber da ist die Legislaturperiode schon um!

„Die Debatte um Inflation hat eine gute Seite“

Ist es denn politisch sinnvoll, von Inflation zu sprechen, wenn die nur bei drei Prozent liegt, aber Gas oder Heizöl um 20, 30 und mehr Prozent teurer wird?

Nun, wenn man sich die Inflationsdaten im Einzelnen ansieht, dann gibt es keinen Bereich, der nicht von Preissteigerungen betroffen ist. Außerdem wissen wir: Ein Anstieg der Energiekosten führt in einer zweiten Welle immer zu einem Anstieg der allgemeinen Lebenserhaltungskosten, weil sich die Produktion von Waren verteuert, ebenso der Transport. Außerdem: Wenn wir diese Diskussion um Inflation nicht hätten, dann würde heute auch kein Mensch über die Regelsätze sprechen und davon, dass diese auch ohne Inflationsrate eklatant unter der Armutsgrenze liegen.

Die Diskussion über Inflation hat also eine positive Seite?

Ja, dass wir jetzt wieder so intensiv über Regelsätze und Bedarfsdeckung diskutieren, haben wir eigentlich der Debatte über die Inflation und dann Cem Özdemir zu verdanken. Das setzte ein mit seiner Forderung, Bauern und Bäuerinnen besser zu entlohnen und zu diesem Zweck die Lebensmittelpreise anzuheben, und seitdem ist die Diskussion auch nicht mehr abgerissen.

Wie positionieren Sie sich da? Mehr Tierwohl und mehr Geld für Bauern führen zu höheren Lebensmittelpreisen, worunter dann die Armen leiden ...

Das ist nicht so schwer. Wenn wir versuchen, Lebensmittel nachhaltig zu erzeugen, unter Berücksichtigung von Tierwohl, Klima-, Umwelt- und Artenschutz, dann wird das die Preise steigen lassen. Dann werden wir nicht anders können, als die finanziellen Zuwendungen an ärmere Menschen deutlich zu erhöhen. Damit hätte man die ökologischen und sozialpolitischen Zielkomponenten auf eine Linie gebracht.

„Das ist ein Missbrauch der Armutsdiskussion“

Steigt der Benzinpreis, heißt es, Ärmere können sich das nicht leisten, beim Fleischpreis ebenso: Arme werden für die Klimapolitik instrumentalisiert.

So ist es. Es sind die SUV-Besitzer, die plötzlich ihr Herz für Corsa-Fahrer entdecken, weil die sich angeblich den Weg zur Arbeit nicht mehr leisten können, es sind die Viel- und Fernflieger, die plötzlich ihr Herz für Krankenschwestern entdecken, die sich den Flug nach Mallorca nicht mehr leisten können. Das ist ein übler Missbrauch einer Armutsdiskussion von interessierten Kreisen, deren eigentliches Ziel es ist, jegliche Mehrausgabe infolge einer notwendigen und vernünftigen Energiewende abzuwenden. Wir als Sozialverband achten darauf, dass wir uns hier nicht vor einen falschen Karren spannen lassen. Wir sagen: Ökologie und Soziales gehen zusammen und müssen auch zusammen betrieben werden.

Es gibt ja Konzepte, wo die Klimapolitik sogar sozial umverteilend wirken könnte, wenn man etwa einen Ökobonus oder ein Klimageld einführt. Das gibt es in der Schweiz schon länger, warum klappt das bei uns nicht?

Ich kann’s auch nicht verstehen. Den Ökobonus haben wir mit dem BUND zusammen ins Spiel gebracht, als Pro-Kopf-Rückerstattung der CO2-Abgabe, was einen deutlichen Verteilungseffekt zugunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten hätte. Die SPD aber beharrt darauf, stattdessen die EEG-Umlage zu senken oder sogar abzuschaffen, was wir für eine unsoziale Kompensation halten: Hier werden die belohnt, die sehr viel Energie verbrauchen, ein Umverteilungseffekt findet nicht statt. Aber auch in der Linken tut man sich schwer, unserem Konzept zu folgen, weil man Vorbehalte vor einer CO2-Bepreisung hat. Ideologie verhindert also vernünftige Lösungen.

Ideologie von welcher Seite?

Von beiden Seiten! Die eine Seite sagt, wir müssen die EEG-Umlage senken, weil ideologisch nun mal Entlastungen und Steuersenkungen das Mittel der Wahl sind. Und bei der Linken wird auch ideologisch argumentiert: Aus Vorbehalt gegen marktwirtschaftliche Instrumente, wie die CO2-Bepreisung eines ist.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



Most Read

2024-09-20 18:26:37