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Ukrainekrieg | Washingtons Umgang mit Russland war ein politischer Fehler epischen Ausmaßes


Link [2022-03-08 01:53:27]



Es war lange klar, dass die Expansion der Nato in den Osten zu einer Tragödie führen würde. Jetzt zahlen wir den Preis für die Arroganz der USA

Russlands Militäroffensive gegen die Ukraine ist ein Akt der Aggression, der die ohnehin schon besorgniserregenden Spannungen zwischen der Nato und Moskau noch weiter verschärfen wird. Der neue Kalte Krieg des Westens mit Russland läuft heiß. Wladimir Putin trägt die Hauptverantwortung für diese jüngste Entwicklung. Aber: Auch die arrogante, taube Politik der Nato gegenüber Russland während des letzten Vierteljahrhunderts hat einen großen Anteil daran.

Analysten, die sich einer realistischen und zurückhaltenden US-Außenpolitik verschrieben haben, warnen seit mehr als einem Vierteljahrhundert davor, dass eine weitere Ausweitung des mächtigsten Militärbündnisses in der Geschichte auf eine andere Großmacht nicht gut ausgehen würde. Der Krieg in der Ukraine bestätigt endgültig, dass dies nicht der Fall war.

„Es wäre außerordentlich schwierig, die Nato nach Osten zu erweitern, ohne dass dies von Russland als feindlicher Akt empfunden würde. Selbst die bescheidensten Erweiterungspläne würden das Bündnis bis an die Grenzen der alten Sowjetunion bringen. Einige der ehrgeizigeren Pläne würden dazu führen, dass das Bündnis die Russische Föderation selbst praktisch umschließt.“ Diese Worte schrieb ich 1994 in meinem Buch Beyond Nato: Staying Out of Europe's Wars. Zu einer Zeit also, als Erweiterungsvorschläge lediglich gelegentliche Spekulationen in außenpolitischen Seminaren in New York und Washington darstellten. Ich fügte hinzu, dass eine Erweiterung „eine unnötige Provokation Russlands“ darstellen würde.

Bill Clinton hat's verbockt

Was damals nicht öffentlich bekannt war: Die Regierung von Bill Clinton hatte bereits im Jahr zuvor die verhängnisvolle Entscheidung getroffen, die Aufnahme einiger ehemaliger Warschauer-Pakt-Länder in die Nato voranzutreiben. Die Regierung würde bald vorschlagen, Polen, die Tschechische Republik und Ungarn als Mitglieder einzuladen – und der US-Senat stimmte 1998 der Aufnahme dieser Länder in den Nordatlantikvertrag zu. Dies sollte die erste von mehreren Erweiterungswellen sein.

Schon diese erste Phase rief russischen Widerstand und Ärger hervor. Madeleine Albright, Clintons Außenministerin, räumt in ihren Memoiren ein: „Der russische Präsident Boris Jelzin und seine Landsleute lehnten die Erweiterung strikt ab, da sie darin eine Strategie sahen, die ihre Verwundbarkeit ausnutzen und die europäische Trennlinie nach Osten verschieben würde, wodurch sie isoliert blieben.“

Strobe Talbott, stellvertretender Außenminister, beschrieb die russische Haltung in ähnlicher Weise: „Viele Russen sehen die Nato als ein Überbleibsel des Kalten Krieges, das sich gegen ihr Land richtet. Sie verweisen darauf, dass sie den Warschauer Pakt, ihr Militärbündnis, aufgelöst haben – und fragen, warum der Westen nicht das Gleiche tun sollte.“ Eine ausgezeichnete Frage, auf die weder die Clinton-Regierung noch ihre Nachfolger eine auch nur annähernd überzeugende Antwort geben konnten.

Letzte freundliche Warnung

George Kennan (der geistige Vater der amerikanischen „Containment-Politik“ während des Kalten Krieges) warnte in einem Interview mit der New York Times im Mai 1998 scharfsinnig davor, was die Ratifizierung der ersten Erweiterungsrunde der Nato durch den Senat in Gang setzen würde: „Ich glaube, dass dies der Beginn eines neuen Kalten Krieges ist", meinte Kennan. Und ergänzte: „Ich denke, die Russen werden mit der Zeit ziemlich negativ reagieren und es wird ihre Politik beeinflussen. Ich denke, es ist ein tragischer Fehler. Es gab überhaupt keinen Grund für diese Aktion. Niemand bedrohte einen anderen.“ Er hatte Recht.

Aber die Staats- und Regierungschefs der USA und der Nato fuhren mit neuen Erweiterungsrunden fort. Einschließlich des provokativen Schrittes, die drei baltischen Republiken im Bündnis aufzunehmen. Diese Länder waren nicht nur Teil der Sowjetunion, sondern auch Teil des russischen Imperiums während der Zarenzeit gewesen. Durch diese Expansionswelle stand die Nato nun an der Grenze der Russischen Föderation.

Die Geduld Moskaus mit dem immer aufdringlicheren Verhalten der Nato ging langsam zu Ende. Die letzte (einigermaßen freundliche) Warnung Russlands, dass die Allianz sich zurückhalten müsse, kam im März 2007, als Putin auf der jährlichen Münchner Sicherheitskonferenz sprach. „Die Nato hat ihre Fronttruppen an unsere Grenzen verlegt“, beklagte Putin dort. Die Nato-Erweiterung stelle „eine ernsthafte Provokation dar, die das gegenseitige Vertrauen verringert.“ Und die Russen hätten das Recht zu fragen: „Gegen wen ist diese Erweiterung gerichtet? Und was ist aus den Zusicherungen geworden, die unsere westlichen Partner nach der Auflösung des Warschauer Paktes gegeben haben?“

2008: Putin greift an

In seinen Memoiren erklärte Robert M. Gates, der sowohl unter George W. Bush als auch unter Barack Obama als Verteidigungsminister fungierte, dass „die Beziehungen zu Russland nach dem Ausscheiden von Bush (senior) aus dem Amt im Jahr 1993 schlecht gemanagt wurden“. Neben anderen Fehltritten „waren die US-Vereinbarungen mit der rumänischen und der bulgarischen Regierung über die Rotation von Truppen durch Stützpunkte in diesen Ländern eine unnötige Provokation“. In einer impliziten Rüge an den jüngeren Bush behauptete Gates, dass „der Versuch, Georgien und die Ukraine in die Nato zu holen, wirklich zu weit ging“. Dieser Schritt sei ein Fall von „rücksichtsloser Missachtung dessen, was die Russen als ihre eigenen vitalen nationalen Interessen betrachten“.

Im Jahr nach der Rede von Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz zeigte der Kreml, dass seine Unzufriedenheit mit den anhaltenden Übergriffen der Nato auf die russische Sicherheitszone über verbale Einwände hinausgehen kann. Moskau nutzte eine idiotische Provokation der pro-westlichen georgischen Regierung, um eine Militäroffensive zu starten, die russische Truppen an den Rand der georgischen Hauptstadt Tiflis brachte. Danach trennte Russland zwei abtrünnige georgische Regionen endgültig ab und stellte sie unter russische Kontrolle.

Die führenden Politiker des Westens (insbesondere der USA) schalteten jedoch weiterhin eine rote Warnlampe nach der anderen aus. Die schockierend arrogante Einmischung der Obama-Regierung in die inneren politischen Angelegenheiten der Ukraine in den Jahren 2013 und 2014, mit der sie Demonstranten beim Sturz des gewählten, russlandfreundlichen ukrainischen Präsidenten unterstützte, war die dreisteste Provokation, die zu einem Anstieg der Spannungen führte. Moskau reagierte sofort mit der Beschlagnahmung und Annexion der Krim – und ein neuer Kalter Krieg war mit voller Wucht entbrannt.

Spielball der Nato

Die Ereignisse der letzten Monate stellten die letzte Chance dar, einen heißen Krieg in Osteuropa zu vermeiden. Putin verlangte von der Nato Garantien in mehreren Sicherheitsfragen. Insbesondere wollte der Kreml verbindliche Zusicherungen, dass die Allianz den Umfang ihrer wachsenden Militärpräsenz in Osteuropa reduzieren und der Ukraine niemals eine Mitgliedschaft anbieten würde. Er untermauerte diese Forderungen mit einer massiven militärischen Aufrüstung an den Grenzen der Ukraine.

Die Antwort der Regierung Biden auf Russlands Forderung nach bedeutenden westlichen Zugeständnissen und Sicherheitsgarantien war lauwarm und ausweichend. Putin entschied sich daraufhin eindeutig für eine Eskalation der Lage. Washingtons Versuch, die Ukraine zu einem politischen und militärischen Spielball der Nato zu machen (auch ohne formale Mitgliedschaft des Landes in der Allianz), könnte das ukrainische Volk am Ende teuer zu stehen kommen.

Die Geschichte wird zeigen, dass Washingtons Umgang mit Russland in den Jahrzehnten nach dem Untergang der Sowjetunion ein politischer Fehler epischen Ausmaßes war. Es war völlig vorhersehbar, dass die Nato-Erweiterung letztlich zu einem tragischen (vielleicht gewaltsamen) Abbruch der Beziehungen zu Moskau führen würde. Aufmerksame Analysten haben vor den wahrscheinlichen Folgen gewarnt. Aber diese Warnungen wurden nicht beachtet. Jetzt zahlen wir den Preis für die Kurzsichtigkeit und Arroganz des außenpolitischen Establishments der USA.

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