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Ukraine-Krieg | „Wir werden kämpfen“: Wie sich Lwiw auf den Erstfall vorbereitet


Link [2022-03-26 13:56:20]



Die Stadt Lwiw im Westen der Ukraine ist vieles: UNESCO-Weltkulturerbe, Fluchtpunkt, letzter sicherer Ort des Landes. Das änderst sich gerade: Der Krieg rückt immer näher

Schon vor Tagen haben die Behörden im westukrainischen Lwiw Order gegeben, Statuen und Denkmäler in Schutzmaterial zu verpacken oder in Depots einzulagern, um sie vor russischen Angriffen zu sichern. Lwiw – zu deutsch: Lemberg – liegt reichlich 50 Kilometer von der polnischen und damit der EU-Außengrenze entfernt. Die Stadt mit ihren gut 700.000 Einwohnern und einer Altstadt, die mit der Kathedrale Mariae Himmelfahrt oder dem Potocki-Palast als UNESCO-Weltkulturerbe geschätzt wird, ist zum Refugium geworden. Sie bietet Schutz für Hunderttausende vom Krieg aus anderen Regionen vertriebene Ukrainer.

Den Einwohnern musste stets bewusst sein, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt ebenfalls von Kampfhandlungen betroffen sein könnten. Vor zwei Wochen bereits waren die etwa 130 Kilometer entfernt liegenden Städte Luzk am Styr und Iwano-Frankiwsk bei einer der am weitesten westlich ablaufenden Operationen der russischen Armee attackiert worden. Nun kam es am Wochenende zu einem Schlag gegen den Flugplatz nahe Lwiw. Dort seien ukrainische Kampfflugzeuge abgestellt gewesen, die man habe treffen wollen, zudem eine Werkstatt für diese Jets, so der russische Armeesprecher Igor Konaschenko. Andrij Sadowyj, Bürgermeister von Lwiw, bestätigt das, indem er von mehreren Raketeneinschlägen berichtet. Der Flughafen selbst allerdings sei nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, hingegen Munitionsdepots und Militärunterkünfte in einem Vorort, Schäden am Stromnetz gebe es keine, auch die Wasserversorgung sei intakt.

Die Bewohner von Lwiw zählten vor mehr als drei Jahrzehnten zu den stärksten Unterstützern einer Trennung von der Sowjetunion, als die Ukraine im Dezember 1991 nach der Entmachtung von Michail Gorbatschow und einem Referendum ihre Unabhängigkeit erklärte. Man ist sich in dieser Stadt sehr bewusst, dass sie als Seele der Westukraine und Symbol des ukrainischen Nationalismus gilt – dass sie alles repräsentiert, was der Kreml verachtet.

„Jeden Tag kommen die Russen näher und näher“, meint der 28-jährige Hotelangestellte Vasyl Dovhan, der im Lwiwer „Nobilis“ Tische eindeckt. „Wir haben natürlich ein bisschen Furcht. Aber wir sind bereit, und wir fühlen uns vereint. Auf keinen Fall werden wir uns ergeben. Wir vertrauen auf die ukrainische Armee und die Milizen, außerdem ist die internationale Gemeinschaft auf unserer Seite. In diesen Tagen sieht die Welt endlich das wahre Gesicht des russischen Regimes. Es soll in der Hölle dafür büßen, dass es unsere unschuldige Bevölkerung tötet.“

Wer eine Erklärung dafür sucht, dass die Autobahn- und Eisenbahnverbindungen nach Lwiw bislang vom russischen Oberkommando offen gehalten werden, könnte sie in den Flüchtlingsbewegungen finden. Die Menschenströme werden zum Grenzübergang Krościenko und damit nach Polen gelenkt, das womöglich durch Überforderung einer massiven humanitären Krise ausgesetzt werden soll.

Noch geht das Leben auf den Straßen von Lwiw – Zentrum des ukrainischen Katholizismus, des Gegenstücks zur Russisch-Orthodoxen Kirche – in den meisten Vierteln seinen mehr oder weniger gewohnten Gang. Und das trotz mittlerweile täglich ertönender Sirenen, die vor Luftangriffen warnen. Auf den Plätzen spielen Straßenmusiker mit ihren Geigen; die Leute stehen auf und gehen zur Arbeit, sofern sie noch welche haben. Gleichzeitig wird allenthalben der Krieg mit all seinen tragischen Augenblicken sichtbar. Dies geschieht besonders dann, wenn am Bahnhof Tausende von Vertriebenen aus ostukrainischen Städten eintreffen, die durch Fluchtkorridore entkommen konnten. Mindestens 200.000 Inlandsvertriebene leben gegenwärtig in Lwiw und bringen die Stadt an den Rand ihrer Möglichkeiten.

„Wir nutzen unsere gesamten Einrichtungen, um sie unterzubringen“, erklärt Vizebürgermeister Andrij Moskalenko. „Universitäten, Kirchen, Fabriken und die Turnhallen von Schulen – sie alle haben ihre Türen für die Hilfsbedürftigen weit geöffnet. Das soll so bleiben, weil wir eine Verpflichtung gegenüber diesen unglücklichen Seelen haben. Wir lassen sie nicht im Stich. Andererseits verfügen wir nicht über unendliche Ressourcen.“

Die meisten Geflüchteten stammen aus der Hauptstadt und aus der Metropole Charkiw. „Ich war in Kiew während der ersten Kriegstage. Die meiste Zeit verbrachte ich in einem Bunker und in einem Hausflur, der genügend Schutz bot. Auf Luftschutzsirenen reagiere ich überhaupt nicht mehr“, erzählt Tetyana Teren, eine 35-jährige Journalistin, die zugleich Exekutivdirektorin des PEN-Zentrums der Ukraine ist, des nationalen Zweigs des Autorenverbandes, der sich für freie Rede und Autorenrechte einsetzt.

Für viele in Lwiw bedeuten die jüngsten Bombenangriffe auf Luzk und Iwano-Frankiwsk, die rund zwei Autostunden entfernt liegen, zweierlei: dass sich der russische Vormarsch schnell auch auf die Westukraine ausdehnen kann und dass es in diesem Land bald kein sicheres Terrain mehr gibt. So ist es kein Wunder, dass sich Lwiw frappierend schnell in eine Garnisonsstadt verwandelt hat. Die Stadt ist als Zentrum einer nationalistischen Bewegung, mit dem Militärflughafen und den dort stationierten Einheiten geradezu prädestiniert dafür, ins Visier der russischen Armee zu geraten. Vizebürgermeister Moskalenko: „Wir wissen, dass sie uns jeden Moment angreifen können. Wir haben gesehen, wie sie die Hafenstadt Mariupol eingekreist haben. Dennoch sind wir auf verschiedene Szenarien eingestellt, auch auf einen möglichen Angriff auf das Herz unserer Stadt.“ Seit Beginn der Intervention am 24. Februar wurden inzwischen die meisten ausländischen Botschaften aus Sicherheitsgründen von Kiew nach Lwiw verlegt, das dadurch zur diplomatischen Hauptstadt der Ukraine wurde. Dieser Ort erregt zwangsläufig die Aufmerksamkeit der Staaten, deren Missionen und deren Personal hierher verlagert worden sind, was für den weiteren Kriegsverlauf nicht ohne Bedeutung ist.

Nähen für die Armee

Mitte des 13. Jahrhunderts gegründet, wurde Lwiw 1349 Residenzstadt des Königreiches Polen und mit erheblichem Reichtum gesegnet. Johann II. Kasimir gründete 1661 die Universität Lwiw, bevor die Stadt als Lemberg von 1772 bis 1918 Hauptstadt des Königreiches Galizien und somit Teil des Habsburgerreiches war. Kirchen, Straßen, Plätze und Gebäude bezeugen so allenthalben eine tiefe Verwurzelung in der Geschichte. Die Vorstellung, dass etwas davon durch Kampfhandlungen Schaden nehmen könnte, ist für die Bewohner unerträglich. Viele sind weiterhin davon überzeugt, dass Wladimir Putin einen Ort mit einem so unschätzbaren künstlerischen und kulturellen Erbe niemals angreifen würde. Für andere dagegen befindet sich Lwiw bereits im Krieg, auch wenn das nicht zum permanenten Ausnahmezustand führen müsse.

Jedenfalls solle man sich auf einen russischen Angriff vorbereiten, heißt es oft. An Stadttoren haben Teenager Checkpoints mit Sandsäcken errichtet, Freiwillige stehen Schlange, um sich der Armee anzuschließen. Ein auf Kupferkabel spezialisiertes Unternehmen stellt Panzersperren her und sogleich selbst auf. Studenten nähen Tarnnetze für die Armee.

„Lwiw bleibt der sicherste Ort in der Ukraine“, ist der 19-jährige Kellner Nazar Vdovyhenko überzeugt, der in einem Restaurant im Stadtzentrum bedient. „Seit der russischen Invasion, die unser Land traf, bereiten wir uns die ganze Zeit auf einen möglichen Angriff vor. Wir haben unsere Landesverteidigungstruppen, wir haben Checkpoints und vor allem den Widerstand der Leute. Ich bin überzeugt, dass wir kämpfen werden.“

Lorenzo Tondo und Peter Beaumont sind momentan als Korrespondenten des Guardian in der Westukraine unterwegs

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