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Ukraine-Krieg | Ukrainische Hafenstadt Mariupol: „Wir haben Keine Angst mehr, wir sind nur noch müde“


Link [2022-03-12 15:59:11]



Ständige Bombenangriffe, kein Strom und kein Wasser, keine Möglichkeit, die Toten zu bergen – in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol herrschen „mittelalterliche“ Zustände

In den dunklen Morgenstunden gegen 3 Uhr morgens ging am Donnerstag die russische Belagerung von Mariupol weiter. „Die Fenster wackeln. Heute ist es verdammt früh“, schrieb Angela Timchenko auf Facebook. Wie „ein kräftiger Regenguss“ habe die jüngste Bombardierung die ukrainische Hafenstadt getroffen, die schon den neunten Tag unter Beschuss war. „Ich frage mich“, so Timchenko weiter, „wo ich etwas Tee und ein bisschen Zucker finden kann.“

Es sei „draußen frostig“ und in Mariupols Wohnungen, in denen die Heizungen aus sind, „bitterkalt“. Gleichzeitig gebe es „keinen Schnee, was kein Wasser bedeutet“. Anfang der Woche hatten die Bewohner der Stadt Schnee gesammelt, um ihn zu Wasser zu schmelzen. Ohne Wasser, erklärte Timchenko, sei es schwer, die Familie zu ernähren. „Sagen Sie mir, ist es möglich, ein Ei in Folie zu backen? Ich habe sechs Stück davon herumliegen. Dann hätten die Kinder ihr Frühstück bekommen“, schrieb sie weiter.

Kein Strom, keine Heizung, kein Trinkwasser, kein Gas

Nach Angaben von Bewohnern geht die Zerstörung der Stadt weiter. Am Mittwoch warf ein russisches Kriegsflugzeug eine Bombe auf Mariupols Geburtsklinik Nummer neun ab. Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij wurden bei dem Angriff drei Menschen getötet, darunter ein Mädchen. Siebzehn Patient:innen und Mitarbeiter:innen wurden verletzt. Die Fotos von schwangeren Frauen, die über eine Landschaft aus Trümmern und schwelenden Kratern getragen wurden, empörten die Welt. Dies sei Völkermord, sagte Selenskij.

Auch Stadtrat Petro Andriuschtschenko ist der Ansicht, der Völkermord gehe weiter. Mariupol stehe unter „ständigem Beschuss“ durch russische Artillerie, etwa durch Grad- und Smerch-Kampfraketen und Tochka-U-Raketen. Am Donnerstag legten Raketen ein weiteres Wohnviertel in Schutt und Asche und rissen Löcher in mehrere Gebäude. Auch das im sowjetischen Neoklassizismus erbaute Schauspielhaus im Stadtzentrum von Mariupol wurde von Bomben getroffen.

Das linke Ufer von Mariupol, wo normalerweise 135.000 Menschen leben, bezeichnete Andriuschtschenko als „nicht mehr bewohnbar“. „Die anderen Bezirke haben deutliche Schäden. Die meisten Wohngebäude sind nicht mehr zu benutzen“, schrieb er auf Telegram. Die Stadt sei ohne Strom, Heizung, Trinkwasser und Gas. Die Russische Föderation halte praktisch 350.000 Menschen als Geiseln.

Da die Leichen auf den Straßen liegen – die Lage ist zu gefährlich, um sie zu bergen – ist die genaue Zahl der Todesopfer nicht zu ermitteln. Laut Andriuschtschenko kamen „nach groben Berechnungen“ 1.200 Menschen ums Leben. Die genaue Zahl der Menschen unter den Trümmern kenne man nicht. „Die russische Armee greift sofort an, so dass wir weder die Toten bergen noch die Verletzten wegbringen können. Alle Krankenhäuser sind voll. Wir haben 2.500 Betten.“ Am Stadtrand habe man ein Massengrab ausgehoben, sagte er weiter.

Schon den sechsten Tag in Folge kam die Evakuierung der Zivilisten in Mariupol nicht zustande. Laut Andriuschtschenko griffen russische Flugzeuge gezielt die Straße an, auf der Busse die Menschen abholen sollten, um sie in Sicherheit und in die ukrainisch kontrollierten Gebiete zu bringen. „Die Luftangriffe begannen am frühen Morgen. Luftangriff auf Luftangriff. Das gesamte historische Zentrum wird bombardiert“, sagte er und fügte hinzu, dass in der Stadt rund 50.000 Kinder und 3.000 Kleinkinder leben.

„Sie wollen weg“

Mariupols stellvertretender Bürgermeister Serhiy Orlov beschrieb die Bedingungen, unter denen die Menschen lebten, als „mittelalterlich“. Ein Vertreter des Roten Kreuzes in der Stadt, Sasha Volkov, bestätigte diesen düsteren Bericht. Trotz des Bemühens der Stadt, Wasserflaschen in die wichtigen Stadtteile zu bringen, hätten viele Einwohner kein Wasser zum Trinken. Läden und Apotheken seien schon vor vier oder fünf Tagen geplündert worden. Manche Leute hätten Essen; andere, darunter auch Eltern mit Kindern, nichts mehr.

Die Lage sei mittlerweile aussichtslos, fügte Volkov hinzu. „Die Leute attackieren andere wegen Essen oder sie schlagen ein fremdes Auto ein, um sich Benzin zu nehmen. Wegen der Kälte werden auch viele krank.“ Das wertvollste Gut sei Holz zum Kochen, erklärte er. Weiter berichtete er von Menschengruppen, die zerstörte Häuser durchstreifen, nach Essen suchen, schauen, was vielleicht nützlich sein könnte, und Wasser aus dem Fluss kochen.

Laut Volkov wohnen in seinem Haus 65 Menschen. Es gibt einen Generator, der täglich Strom für drei bis vier Stunden erzeugt. Frauen und kleine Kinder seien im Keller untergebracht, während andere im Erdgeschoss schliefen. Fleisch sei nicht zu bekommen. Aber „eine Art Schwarzmarkt für Gemüse“ gebe es. „Wir versuchen, so gut wie möglich zurechtzukommen“, erzählte er hustend.

Andere leben unterirdisch in ihren Autos. Die 18-jährige, in Mariupol aufgewachsene Tanya lebt in Deutschland. Ihre Mutter und ihr Bruder haben sich in einer Kellergarage in Mariupol eingerichtet. „Es ist sicherer als in ihrer Wohnung im fünften Stock“, eklärte Tanya. „Sie schlafen im Auto, damit sie sich ein bisschen warm halten und die Handys aufladen können.“

„Es sind zehn oder zwölf Leute da unten“, berichtet die junge Frau, die ihren Nachnamen nicht nennen will. „Mein Bruder sagt, alle versuchen, sich gegenseitig zu helfen. Wenn jemand Essen oder Wasser übrig hat, dann teilen sie es.“ Als es noch Strom gab, habe ihre Mutter „eine riesige Menge Haferbrei“ gekocht. Und in den ersten Tagen der russischen Invasion füllte sie Wasser in die Badewanne. „Zu Kriegsbeginn haben sie auch Vorräte eingekauft, aber es ist nie genug da“, erzählte Tanya weiter. „Meine Mutter hat am Telefon erzählt, alle hätten so viel Gewicht verloren, weil sie so gestresst sind. Meine Mutter sagte: ‚Kein Essen, das ist okay. Wir haben keine Angst mehr – wir sind einfach müde, müde von dieser Situation. Man gewöhnt sich irgendwie an das alles. Das Schießen – ist okay. Die Bombardierung – ist okay.‘“ Auch der quälende Hunger habe nachgelassen. „Sie sind einfach so müde“, erklärte Tanya. „Sie wollen weg, sie wollen in Sicherheit sein.“

Mariupol ist eingekesselt

Die Einwohner von Mariupol wirkten frustriert angesichts ihrer aussichtslosen Lage – von Kiew und der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Mariupol liegt im äußersten Südosten der Ukraine am Asowschen Meer. Die Stadt ist eingezwängt zwischen der alten Frontlinie, an der zwölf Meilen östlich des Stadtzentrums prorussische Separatisten stehen, und der russischen Armee, die am westlichen Küstenrand Stellung bezogen hat. Mariupol ist eingekesselt.

Im Norden rund um Kiew haben die ukrainischen Streitkräfte russische Kampfflugzeuge abgeschossen und mithilfe in der Türkei hergestellter Drohnen die feindlichen Panzerkolonnen durchlöchert. Die ukrainische Armee in Mariupol dagegen hat scheinbar keine Luftabwehrraketen. Die russischen Kampfflieger können ungehindert bombardieren. „Warum es im Raum Mariupol wohl keine Nachrichten über die glorreiche Kampfdrohne Bayraktar gibt!“, schrieb Timschenko mit bitterem Unterton auf Facebook.

Unterdessen wissen manche Verwandte der in Mariupol Festsitzenden nicht, ob ihre Familien noch leben. Die 33-jährige Viky aus Wien hat schon seit dem 2. März keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern Wolodymyr und Irina, ihrer 88-jährigen Großmutter Galyna, ihrer Schwester Julia und ihrer Nichte Veronika. Zusammen hatten sie in einem kleinen Keller in ihrem Haus im Primorski-Bezirk Schutz gesucht, einem Stadtteil, der wiederholt Ziel von russischen Bombenangriffen war.

„Nichts zu hören, bringt uns um“, erklärte Vikys Mann Olsi. „Wir wissen nicht, was mit ihnen passiert ist. Sind sie noch am Leben oder nicht? Wir haben es bei den Telegram-Gruppen der Stadt Mariupol und bei Freiwilligen probiert, die Informationen an Angehörige weiterleiten. Aber wir haben nichts gehört. In den ersten Tagen der Invasion konnten wir noch jeden Tag sprechen.“

Ihre schlimmste Befürchtung sei, dass sie vielleicht nie herausfinden werden, was mit ihrer Familie geschehen ist. „Insgesamt haben sie acht Handys. Wir probieren sie alle aus, den ganzen Tag über, von morgens bis abends. Vor zwei Tagen hat immerhin eines der Handys zweimal geklingelt. Aber keiner ging ran. Dass sie nicht in der Lage waren, ans Telefon zu gehen, ist ein erschreckender Gedanke.“

Luke Harding ist Korrespondent der britischen Zeitung The Guardian und berichtet hier aus Lwiw

Caroline Bannock ist Redakteurin des Guardian

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