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Ukraine-Krieg | Sanktionen: Damit hat der Kreml offenbar nicht gerechnet


Link [2022-03-12 15:59:11]



Ökonomische Strafaktionen machen Russland mehr zu schaffen als ein verzögerter
 Vormarsch seiner Armee

Trotz zahlreicher Signale kam der Krieg in der Ukraine in all seiner Heftigkeit für viele überraschend. Auch wenn US-Geheimdienste vor einer russischen Offensive warnten, konnten die sich real nur wenige vorstellen. Nun ist der Krieg da und nur wenig deutet darauf hin, dass er schnell beendet werden kann. Wie erfolgreich die Seiten sind, lässt sich oftmals nur vage bestimmen. Der „Nebel des Krieges“ – also die Unklarheit, wie die realen Gegebenheiten vor Ort wirklich sind – ist bei diesem Konflikt vermutlich noch größer als in allen früheren des 21. Jahrhunderts. Aus militärischer Sicht scheint die russische Invasion für viele Experten bereits gescheitert zu sein – die Ukraine sei nicht in einem Hauruck-Angriff über Nacht erobert worden. Diese Einschätzung verzerrt den Blick darauf, dass die Invasion weiterhin läuft und die russischen Truppen vorrücken – langsam, aber permanent.

Mittlerweile lassen sich vier Hauptstoßrichtungen erkennen. Aus dem Osten bewegen sich Verbände westwärts, doch scheint es sich bei dieser Offensivrichtung um die für Moskau derzeit schwierigste zu handeln. Im Weg steht mit der Anderthalb-Millionen-Metropole Charkiw die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Sie galt lange Zeit als „pro-russischste“ Stadt des Landes, wehrt sich nun aber heftig, was den russischen Generalstab offensichtlich überrascht hat. Wie lange die Schlacht um Charkiw dauert und wie sie ausgeht, ist momentan eines der größten Rätsel auf dem Schlachtfeld.

Kadyrovs Bataillone

Aus dem Norden rücken Truppen auf Kiew vor und haben die Hauptstadt bereits von drei Seiten blockiert. Die Lage scheint zwiespältig, wenn die einen auf Straßenkampf bis zum letzten Mann schwören und die anderen Kiew hastig verlassen in Richtung Westen bis Lwiw und nach Möglichkeit weiter nach Polen. Besonders brisant ist die Entsendung tschetschenischer Bataillone, deren Soldaten Stellung rund um Kiew beziehen, nachdem Tschetschenien-Präsident Ramsan Kadyrov bei Wladimir Putin persönlich um einen Kampfauftrag gebeten haben soll. Wann der eigentliche Sturm auf die Stadt beginnt, ist unklar. Russische Fernsehteams sind bereits vor Ort angekommen und stehen nach eigenen Angaben gut 20 Kilometer vor Kiew.

Am erfolgreichsten operiert die russische Armee im Süden. Von der Halbinsel Krim rückten die Einheiten nach Norden vor und teilten sich in drei Stoßgruppen auf. Es ging zum einen ostwärts entlang des Asowschen Meeres in Richtung Mariupol, der letzten ukrainisch kontrollierten Stadt im Donbass, deren Fall zu einer Landbrücke zwischen Donezk und der Krim führt, vermutlich ein taktisches Ziel des russischen Oberkommandos. Der zweite Stoßkeil weist in den Norden Richtung Enerhodar. In der Stadt liegt mit der Anlage Saporischschja das größte Kernkraftwerk Europas, das in der Nacht zum 4. März von russischen Truppen vollständig eingenommen wurde. Die Kämpfe zuvor lösten weltweit die Sorge aus, dass die Atommeiler beschädigt werden und dies einen Supergau auslösen könnte. Posts und Meldungen in sozialen Netzwerken, wonach die Kernreaktoren gezielt von Panzern beschossen wurden, stellten sich schnell als Fake heraus. Am Freitagvormittag wusste man, dass nur administrative Gebäude beschädigt wurden, es an den Reaktoren keinerlei Schäden gab und die Angestellten ihre Arbeit regulär fortsetzten.

Der dritte Stoßtrupp überquerte den Hauptfluss der Ukraine – den Dnjepr – und rückt derzeit ins Landesinnere auf der Westseite des Flusses vor. Das Hauptziel dürfte die Schwarzmeer-Stadt Odessa sein. Russische Kriegsschiffe haben bereits Stellung vor der Stadt bezogen und werden die Offensive vermutlich mit einer Landungsoperation unterstützen. Mittelfristig dürfte es das Ziel Moskaus sein, die Ukraine komplett vom Schwarzen Meer abzuschneiden und die Grenze zu der selbst erklärten Republik Transnistrien zu erreichen, wo bereits seit 1995 eigenes Militär steht.

Tumultartige Szenen bei Ikea

Auch wenn das Vorrücken bei allen dargestellten Richtungen länger braucht als vermutlich erwartet, scheinen Verluste an Zeit, Technik und Personal für Moskau verkraftbar zu sein. Vor Wochenfrist erklärte Putin sowohl im russischen Staatsfernsehen als auch im Telefonat mit Emmanuel Macron, er sei entschlossen, die „Operation zum Ende zu führen“. Im Endeffekt könnten die wirtschaftlichen Schäden den Ausschlag dafür geben, ob Moskau die Invasion fortsetzt oder nicht. Der Kreml hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass der Westen so schnell, so einheitlich und konsequent reagiert. Angesichts der horrenden Bilder aus ukrainischen Städten nach ihrer Bombardierung wurden beispiellose Sanktionen eingeführt, die in den ersten Tagen zu massiven Turbulenzen in der gesamten russischen Finanz- und Verkaufsbranche führten und zu teils panischen Hamsterkäufen unter Russen sorgten. Der Rubel legte eine Achterbahnfahrt hin. Die Sanktionen reichen vom Ausschluss russischer Banken aus dem SWIFT-System über das Einfrieren zahlreicher gemeinsamer Projekte bis zum Verbot, russische Flugzeuge zu warten. Hinzu kamen „nicht-staatliche“ Strafaktionen westlicher Unternehmen, die Produktions- oder Verkaufsstätten in ganz Russland schlossen. Als Ikea bekannt gab, sowohl den Online- als auch Offline-Verkauf komplett einzustellen, kam es in den Moskauer Filialen zu tumultartigen Szenen.

Die einzige Chance, die vorerst bleibt, ergibt sich durch chinesische Investoren. Peking erklärte mehrfach, sich den Sanktionen nicht anschließen zu wollen. Chinesische Firmen stehen bereit, um sich Marktanteile zu schnappen, die nach dem westlichen Exodus frei werden. Besonders im Automobil- und Elektroniksegment bieten sich wachsende Verkaufsanteile an: Xiaomi statt iPhone, Dadi statt BMW, lautet die Devise.

Nikita Gerasimov promoviert als Politikwissenschaftler an der FU Berlin

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