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Ukraine-Krieg | Meine Flucht aus Mariupol nach Russland: Drei Wochen Kreuzfeuer, eine Woche Odyssee


Link [2022-05-25 08:39:04]



Wie ich die Schlacht um Mariupol erlebte, warum ich auf die Krim flüchtete – und was ich von manchen westlichen Medien halte

Heute bin ich in Sicherheit. Auf der Krim, wo ich in den 1990er-Jahren studiert und lange gelebt habe. Alle, für die ich verantwortlich war, haben die Flucht aus Mariupol gut überstanden: meine alte Mutter, mein Kind, das unterwegs erkrankte, und mein Ehemann, der es besonders schwer hatte, weil er gehbehindert ist. Dass ich so etwas erleben müsste wie den März 2022, hätte ich nie gedacht. Dabei hatte schon unserer Umzug von der Krim nach Mariupol vor einigen Jahren mit dem Konflikt zu tun: Wegen der Sanktionen konnte mein Mann seine Geschäfte nach 2014 nicht mehr von der Halbinsel aus betreiben.

Propaganda und Übertreibungen gibt es in diesem Krieg genug. Ich bin gebeten worden, möglichst nüchtern zu berichten, was ich erlebt und selbst gesehen habe. Mit etwas Abstand komme ich dem gerne nach. Verzeihen Sie, dass ich meinen Namen verschweige, das wäre mir zu unkontrollierbar. Wie das Pseudonym andeutet, bin ich krimtartarischer Herkunft.

Als die „Operation“ begann, rechnete niemand in meinem Umkreis mit derart schweren Kämpfen. Trotzdem habe ich gleich alles Geld abgehoben, haltbare Lebensmittel gekauft, die Telefone und die Powerbank aufgeladen. Zum letzten Mal in einem Supermarkt war ich am 27. Februar in der Innenstadt. Da gab es in unserem Viertel schon nichts mehr – wir wohnten, vom Land Richtung Meer gesehen, am linken Ufer des Flusses Kalmius, der Mariupol in zwei Hälften teilt. Am 5. März hörte ich erstmals, es würden Läden ausgeräumt. Die Leute hatten kein Essen. Aber es gab auch Plünderungen.

Der Angriff der russischen Truppen begann am 2. März aus Richtung Donezk. Man hörte Explosionen. Schon an diesem Tag wurde das fünfstöckige Gebäude neben unserem Haus getroffen. Es gab ein Feuer und Schäden im Dachgeschoss. Laut Polizei war es eine „verirrte Rakete der ukrainischen Streitkräfte“. Sollte uns das beruhigen? Es ist in einer solchen Lage schwer zu sagen, woher welche Geschosse kommen. Ansonsten war es in der Umgebung zunächst eher ruhig. Gekämpft wurde am Stadtrand.

Wasser aus dem Heizungsrohr

Ab dem 2. März gab es aber keinen Strom mehr, einige Mobilfunkanbieter stellten den Betrieb ein, Wasser und Heizung wurden abgedreht. Alles wurde zum Problem. Manche nutzten das Wasser aus den Heizungsanlagen, wir gingen zu einem Hydranten. Viele versteckten sich in Kellern. Wir blieben lieber im Erdgeschoss, um im Fall eines Treffers nicht etwa im Keller eingeschlossen zu sein. Wir wagten uns nur noch nahe des Hauses nach draußen.

Ab 4. März verstärkten sich die Kämpfe spürbar. Wir beschlossen, die Stadt möglichst bald zu verlassen. Aber die Informationslage war chaotisch. Viele waren von Nachrichten schon abgeschnitten. Aber auch in den Medien gab es widersprüchlichste Meldungen. Die Asow-Truppen erklärten, die Verteidiger hielten die Stellung, es gebe keine „Grünen Korridore“. Der Bürgermeister hingegen sprach über eine Vereinbarung sicherer Auswege. Das russische Verteidigungsministerium kündigte eine zeitweise Waffenruhe an. Niemand wusste etwas Gesichertes.

Deshalb gab es Gerüchte. Manche meinten, die ukrainische Armee unterhalte am Stadtrand Kontrollpunkte, an denen entschieden werde, wer raus darf und wer nicht. Andere hatten gehört, dass die Russen angeblich auf Flüchtlingskonvois schössen. Manche warteten auf eine offizielle Genehmigung zum Verlassen der Stadt. Die Menschen baten, dass mit Lautsprechern durch die Straßen gefahren werde, um Grüne Korridore anzukündigen. Die einen sagten dies, die anderen das, viele wussten von nichts – und im Hintergrund hörte man Explosionen.

Am 5. März hatten wir die Information, es werde vom Schauspielhaus in der Innenstadt einen Konvoi in Richtung der ukrainischen Stadt Saporischschja geben. Wir fuhren in meinem Auto hin. Dort warteten viele Menschen, Busse mit der Aufschrift „Kinder“ standen bereit. Dann hieß es, es gebe nun doch keinen Korridor. Wir fuhren enttäuscht nach Hause zurück.

Druckwelle verklemmt Wohnungstüren

In den zwei Wochen danach wurden die Vorräte knapp. Weiterhin hörte man Explosionen. Das Asow-Stahlwerk, Hauptbasis der Asow-Brigaden, liegt auch am linken Ufer. Es wurde vom Stadtrand beschossen, Granaten flogen zurück. Aber im näheren Umfeld gab es zunächst keine weiteren Schäden – bis zur Nacht zum 21. März. Da setzte ein starker Beschuss ein, man sprach von schwerer Artillerie. Zum Glück gab es in unserem Haus auch in dieser Nacht keinen Einschlag, aber direkt davor. Die Druckwelle drückte die Fenster ein und verklemmte die eisernen Wohnungstüren. Wer drin war, konnte nicht heraus. Morgens halfen Nachbarn beim Aufbrechen.

Am Morgen des 21. März hatten wir gehört, es stehe uns nun frei, die Stadt zu verlassen. Leider war gerade in dieser Nacht mein Auto ausgebrannt. Freunde, die mitkamen, hatten auch keines. Wir sind die sechs Kilometer zum Treffpunkt gelaufen. Meinen nach einem Schlaganfall gehbehinderten Mann mussten wir stützen, immer wieder fielen wir hin.

Am Stadtrand warteten Donezker Soldaten und fuhren uns in Kleinbussen nach Nowoasowsk, einer Stadt auf dem Territorium der selbst proklamierten Volksrepublik. Zwei Nächte schliefen wir im Kulturhaus. Es war eng, alles wirkte improvisiert. Wir sollten die Unterkunft nicht verlassen, aber kontrolliert wurde das nicht. Also nutzten wir die Toiletten in einem nahen Hotel.

Unser eigentliches Ziel war wohl das unweite Dokutschajiwsk. Dort waren wir zur Überprüfung in einer Schule untergebracht. Die Versorgung war gut, die Prozedur aber zog sich: Erwachsene bis 70 Jahre wurden erkennungsdienstlich behandelt. Offenbar ging es darum, ein Einsickern von Saboteuren zu verhindern. Die Telefone wurden überprüft, auf Kontakte zum Asow-Regiment, wie es hieß. Zu allem Überfluss ging ein Virus um. Kinder, aber auch Erwachsene wurden krank. Die Kleinen hatten teils hohes Fieber, Erbrechen, Durchfall und Husten. Es gab eine medizinische Betreuung, aber einige Kinder kamen vorsichtshalber ins Krankenhaus. So dauerte die „Filtration“ vier Tage.

Suche nach Asow-Tattoos

Die russische Grenze erreichten wir bei Weselo-Wosnessensk, Gebiet Rostow am Don. Zunächst warteten wir in einem Zelt, es gab Essen und Getränke. Dann wurde wie an einem Flughafen das Gepäck durchleuchtet. Wieder befragte man Erwachsene bis 70 Jahre. Manche Männer wurden auch körperlich untersucht – auf politische Tätowierungen, hieß es, und auf Anzeichen von Waffengebrauch. Mein Mann war davon nicht betroffen. Bei ihm dauerte das Gespräch wohl deshalb etwas länger, weil er türkischer Staatsbürger ist. Wer ein Ziel angab, konnte jedenfalls mit ukrainischen oder anderen Papieren einreisen. Wer keines hatte, wurde registriert, auf russische Städte verteilt und bekam ein Ersatzdokument über den Flüchtlingsstatus.

Wir hatten ein Ziel. Nach zwölf Stunden an der Grenze ging es weiter nach Taganrog, in eine Art Abhol-Zentrum. Meine Schwester fuhr uns im Auto über die Brücke von Kertsch auf die Krim. Dort brachten wir gleich das Kind zum Auskurieren in eine Klinik für Infektionskrankheiten.

Ich war so erleichtert nach einem Monat Angst und Stress! Dankbar bin ich den Donezker Soldaten. Sie waren freundlich und haben das so gut es ging organisiert. Von zunächst zurückgebliebenen Nachbarn erfuhr ich, dass sie nach unserer Flucht sogar ins Viertel gekommen sind, um eine Evakuierung anzubieten und den Weg zum Stadtrand zu überbrücken. Der war ja für viele eine hohe Hürde geworden.

Wie derweil im Ausland über all das berichtet wurde, erfuhr ich im Nachhinein von Freunden in Deutschland. Zu dem Geschehen in der Geburtsklinik und im Schauspielhaus, die so oft in den Nachrichten waren, kann ich nichts sagen. Ich weiß davon auch nur aus zweiter Hand. Zwei Dinge will ich aber kommentieren.

Männer entkommen dem Krieg in Richtung Osten

Erstens sagten mir meine Freunde nach meiner Ankunft, dass in deutschen Medien genau ab dem Zeitpunkt unserer Flucht – etwa im Spiegel am 22. März – verbreitet wurde, Russland „verschleppe“ systematisch Menschen aus Mariupol. Das hörte ich zum ersten Mal. Ich habe auf meiner Flucht von so etwas keine Spur gesehen und weder Zwang noch Gewalt erlebt. Auch später nachgekommene Nachbarn haben nichts dergleichen berichtet.

Anders als wohl nach Westen können Richtung Osten auch Männer im kampffähigen Alter dem Krieg entkommen und bei ihren Familien bleiben. Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass das schneller geht. Aber dass diese Männer so gründlich überprüft werden, finde ich in der gegebenen Lage nachvollziehbar. Unverantwortlich ist es hingegen, daraus solche Horror-Meldungen zu machen. Hat die Stadtverwaltung das tatsächlich so gesagt, wie es behauptet wird? Dann hat sie vielleicht Menschen davon abgebracht, sich in Sicherheit zu bringen. Kurz nach unserer Flucht begannen ja schwere Kämpfe.

Zweitens möchte ich etwas dazu sagen, wie die Kämpfe um Mariupol anscheinend in Ihren Medien dargestellt werden. Sie werden mir glauben, dass ich lieber keine „Militäroperation“ rund um meine Wohnung gehabt hätte. Aber es wurden nicht einfach wahllos Wohnviertel „bombardiert“. Es fanden Kämpfe statt, und wir saßen im Kreuzfeuer. Im Nachbarhaus, das mehrfach getroffen wurde, habe ich Mitte März fünf oder sechs ukrainische Soldaten gesehen. Sie forderten die Bewohner der oberen Stockwerke zum Ausziehen auf und brachten Waffen hoch. Jetzt bekam ich erst recht Angst. Militärisch war das vielleicht sinnvoll, aber so wurde dieses Haus zum Ziel – und seine Umgebung, also wir. Denn die Artillerie, das musste ich im März 2022 lernen, trifft nicht sehr genau.

Als wir am 21. März aufbrachen, waren in unserer Straße nach dem nächtlichen Beschuss einige Häuser zerstört, bei vielen waren die Fenster zersprungen. Nur Stunden nach unserer Abreise – um 16 Uhr – gab es laut Nachbarn auch in unserem Haus einen Einschlag. Am 14. April bekam ich Fotos aufs Handy, auf dem es komplett schwarz ist, offenbar Feuer- und Granatschäden. Wir müssen uns jetzt auf der Krim einrichten. Zum Glück habe ich hier Familie und russische Freunde, die mir helfen. Ob wir je nach Mariupol zurückkehren, in die Wohnung, die immerhin mein Eigentum ist? Ich weiß auch nicht, was noch kommt. Ich hoffe für alle auf das Beste.

Ajsche Mustafaeva ist ein Pseudonym. Die Autorin ist der Redaktion bekannt

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