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Ukraine-Krieg | Kritik an Merkels Appeasement-Politik geht bisher am Kernproblem vorbei


Link [2022-06-11 14:42:41]



Alt-Kanzlerin Angela Merkel weist im Berliner Ensemble Kritik an ihrer Russland-Politik zurück. Aber warum hat sie beim Wandel durch Annäherung ausschließlich auf die Wirtschaft gesetzt? Das war nicht nur bei Nord Stream 2 ein Fehler

Eigentlich war die Sache klar. Die öffentliche und vor allem die mediale Meinung hatte sich mehrheitlich auf eine bestimmte Erzählung zum Thema Angela Merkel geeinigt: Eine gute Landesmutter, eine überzeugte Europäerin, mutig obendrein, als sie im Spätsommer 2015 die Grenzen für Geflüchtete nicht schloss. Beim Klimaschutz, nun ja, vielleicht ein bisschen zögerlich, aber Politik ist nun mal die Kunst des Möglichen, mehr war halt erstmal nicht drin. Und wie mutig sie diesem Putin begegnet ist, man erinnere sich nur an die Szene mit dem Hund!

Die Wirklichkeit der Ära Merkel kam in dieser Geschichte allerdings nur begrenzt zum Vorschein: Dass die Landesmutter die sozialen Brüche in der deutschen Gesellschaft hinter ihrer „Deutschland geht es gut“-Rhetorik weitgehend unbearbeitet verschwinden ließ; dass die Europäerin vor allem eine EU nach deutschen (Export-)Interessen gestaltete; dass sie die kurzfristige Profitmaximierung der deutschen Autoindustrie immer wieder für schutzbedürftiger hielt als das Klima – wer wollte das schon so genau wissen?

Angela Merkel: Von der gefeierten Politikerin zur Symbolfigur einer grundfalschen Politik

Die Altkanzlerin stünde wohl bis heute als bescheidene Ikone des gemütlich weiterwurstelnden Deutschland da, hätte Wladimir Putin nicht den Überfall auf die Ukraine begonnen. Aber sein Krieg hat bekanntlich alles verändert, auch den kollektiven Blick auf die Vergangenheit. Und aus der gefeierten „Mutti“ wird im Handumdrehen die Symbolfigur einer Politik, von der plötzlich fast die gesamte Leitartikel-Branche zu wissen glaubt, wie grundfalsch sie gewesen sei.

„Ein halbes Jahr ist Angela Merkel nicht mehr Bundeskanzlerin. Ihr Erbe wird allerdings durch ihre Appeasement-Politik gegenüber Wladimir Putin und die energiepolitische Abhängigkeits-Freundschaft mit dem schon vor Kriegsausbruch immer aggressiveren Russland belastet“, schrieb zum Beispiel der Tagesspiegel nach Merkels erstem größeren Auftritt seit der Amtsübergabe an Olaf Scholz. Und ganz ähnlich klang es in der Mehrheit der Medien.

Nun ist es zwar nur zu begrüßen, dass viele Autorinnen und Autoren wenigstens jetzt ihre kritische Distanz zur Altkanzlerin entdecken. Aber es fällt schon auf, dass der Tenor der veröffentlichten Meinung dem derzeitigen Trend in der gesamten Russland-Debatte entspricht: Die Politik der diplomatischen Annäherung war falsch und naiv, mehr Konfrontation, mehr Sanktionen, mehr Rüstung wären spätestens seit der Annexion der Krim an der Tagesordnung gewesen. Gegenmeinungen: fast Fehlanzeige. Das ist vielleicht kein Wunder angesichts des historischen Verbrechens, das Wladimir Putin gerade begeht. Aber viel zu einfach ist es trotzdem. Gerade mit Blick auf eine Zukunft nach dem Krieg.

Umdeutung der Diplomatie mit Hilfe eines hinkenden Vergleichs

Merkels Rückblick beim öffentlichen Gespräch kürzlich am Berliner Ensemble hätte eine differenziertere Betrachtung verdient. Sie ergibt ein Bild, das manche Vorwürfe fragwürdig erscheinen lässt und andere umso bedenkenswerter.

Tatsächlich lässt sich die Kritik an der Merkel’schen Russlandpolitik grob in zwei Aspekte unterteilen: das sogenannte „Appeasement“ einerseits und die „energiepolitische Abhängigkeits-Freundschaft“, wie der oben zitierte Tagesspiegel-Autor es ausdrückt.

Appeasement, das ist die Chiffre derjenigen, die die diplomatischen Bemühungen der vergangenen Jahre um Verständigung mit Russland pauschal für verfehlt erklären oder gar, wie osteuropäische Stimmen, als mitursächlich für Putins völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine. Der Begriff ist rein negativ belastet, seit die britische „Beschwichtigungspolitik“ gegenüber dem deutschen Nazi-Regime vor dem Zweiten Weltkrieg scheiterte. Und das ist denjenigen, die das Wort „Appeasement“ heute für die Russlandpolitik der Nuller- und Zehnerjahre gebrauchen, ganz recht.

Dieser pauschal negativen Umdeutung von Diplomatie mit Hilfe eines ziemlich hinkenden historischen Vergleichs hat Angela Merkel bei ihrem Berliner Auftritt einen bemerkenswerten Satz entgegengestellt: „Diplomatie ist ja nicht, wenn sie nicht gelingt, deshalb falsch gewesen“, sagte sie in ihrem leicht verschwurbelten Stil, aber in der Sache unmissverständlich. Mit anderen Worten: Das Scheitern an der unerwarteten imperialen Kriegsbereitschaft des Autokraten in Moskau muss noch lange nicht bedeuten, den Versuch friedlicher Konfliktlösung auch mit einem Regime wie diesem in Bausch und Bogen zu verwerfen. Es ist die bisher wohl prägnanteste Antwort an die vielen, die es nun so viel besser zu wissen glauben.

Merkels Politik zielte auf die Sicherung deutscher Standort-Interessen

Das bedeutet allerdings keineswegs, dass sich jede Kritik am Merkel’schen Kurs erledigt hätte. Zum einen wird ja niemand behaupten, dass sich Deutschland allen umstrittenen Offensivaktionen der Nato widersetzt hätte – siehe die Truppenpräsenz im Baltikum. Zum anderen ist da auch noch die Sache mit der „energiepolitischen Abhängigkeits-Freundschaft“.

Dazu hat die Altkanzlerin im Berliner Ensemble gesagt, sie habe „nicht daran geglaubt, dass Putin durch Handel gewandelt wird“. Wenn es also nicht die ohnehin fragwürdige Idee war, ökonomische Verflechtung würde automatisch für Frieden sorgen: Was hat sie dann dazu bewogen, die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen noch zu erhöhen und auf dem Bau der Gasleitung Nord Stream 2 zu bestehen?

Die Antwort darauf führt zum Kern der Merkel’schen Politik, auf den diejenigen viel genauer schauen sollten, die nach den Ursachen internationaler Konflikte suchen: Immer ging es, sowohl in der ökonomischen Konkurrenz-Gemeinschaft namens EU als auch global, um die Sicherung deutscher Standort-Interessen. Die beruhten zum einen auf fossiler Energie, deren Ablösung durch Erneuerbare die Kanzlerin allenfalls mit angezogener Handbremse betrieb, und zum anderen auf den Interessen der Exportwirtschaft. Das war das zentrale politische Motiv der Ära Merkel, und weder durch die Klimakrise noch durch den Charakter autoritärer Regime hätte sich diese Kanzlerin jemals davon abbringen lassen.

Es hat in den Jahren dieser Ära immer wieder Stimmen gegeben, die forderten, den Ansatz der diplomatischen Verständigung mit anderen Inhalten zu füllen. Aber die verzweifelten Appelle, auf zivilgesellschaftlichen Austausch mit antiautoritären Kräften in Russland zu setzen und diese nach Möglichkeit zu stärken, verhallten ebenso ungehört wie der Vorschlag, den friedlichen Austausch „von unten“ etwa durch Visafreiheit zu fördern.

Das klingt heute, im Angesicht von Putins Krieg, vielleicht unrealistisch, wir leben in einer Zeit der bösen Überraschungen. Aber wer mag ausschließen, dass Diplomatie und friedlicher Austausch jenseits kurzsichtiger Wirtschaftsinteressen auch mal zu positiven Überraschungen hätten führen können?

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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