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Ukraine-Krieg | Igor Pedin flieht zu Fuß durch die Ukraine: Eine Odyssee mit Koffer und Hund


Link [2022-06-11 14:42:41]



Panzer-Konvois, russische Soldaten, Checkpoints und jede Menge Angst im Gepäck: Wie der 61-jährige Igor Pedin zu Fuß durch die russischen Linien von Mariupol bis nach Saporischschja flüchtete

Igor Pedin wollte zu einem unsichtbaren Menschen zu werden. Um dann wie ein Geist mit einem kleinen Köfferchen und seinem Hund Schu-Schu die Höllenlandschaft der belagerten Hafenstadt Mariupol zu verlassen. Ziel sollte die ukrainisch kontrollierte Stadt Saporischschja sein, 225 Kilometer entfernt, zu Fuß und durch unwegsames, russisch besetztes Gebiet. Das entspricht der Entfernung von München nach Stuttgart, allerdings durch ein Gebiet, in dem ein Krieg tobt, wie es ihn seit 1945 in Europa nicht geben hat. Für Igor Pedin bedeutete es, auf Panzerkonvois und nervöse, schießfreudige russischen Soldaten zuzulaufen. Es hieß, Minen auszuweichen und mit Hund und Gepäck zerstörte Brücken zu überqueren. Und es ließ ihn an ausgebrannten Häusern vorbeizukommen, an weinenden Männern und Frauen mit herzzerreißenden Geschichten von Leid und Tod und dem verlorenen Willen, weiterzuleben.

Das alles konnte der frühere Schiffskoch Igor Pedin nicht wissen, als er loslief. Und ganz unsichtbar war er natürlich auch nicht, erzählt der 61-jährige, als ich ihn in der relativen Sicherheit der ukrainischen Hauptstadt Kiew treffe. Er sei zwar nicht unsichtbar gewesen, wiederholte Pedin mit Tränen in den Augen. Aber er habe Glück gehabt.

Die endgültige Entscheidung, Mariupol zu verlassen, traf er am 20. April. Da hatten russische Soldaten den Teil der Stadt, in dem er lebte, erreicht. Sie seien von Haus zu Haus gegangen und hätten willkürlich um sich geschossen. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur noch wenig, für das es sich zu bleiben gelohnt hätte: Essen und Wasser waren rar. Und in den Straßen stapelten sich die Toten.

Vorbei an Bombenkratern

Pedin bereitete sich sorgfältig vor. Er packte eine Tasche, wog sie und zwang sich, die ursprünglich 70 Kilo Gewicht auf 50 Kilo zu reduzieren.Die erste Herausforderung für Pedin und Schu-Schu bestand darin, die fünf Kilometer bis an den Stadtrand zu schaffen. Dabei war er überhaupt nicht sicher, dass ihnen das gelingen würde.

Am 23. April um sechs Uhr morgens verließ Pedin seine Wohnung in der Nähe des Mariupoler Hafen. Er brauchte zwei Stunden, um zwischen Bombenkratern, verbogenem Stahl und nicht explodierten Granaten die Kyprinostraße entlang Richtung Norden zu gelangen. Auf der Straße lagen Leichen. Er kam an russischen Soldaten vorbei, die Wasser und Essen an lange Schlangen von verzweifelten Menschen mit aschgrauen Gesichtern verteilten. An der Menschenmenge schlich er sich vorbei, vermied Augenkontakt mit den Soldaten und ging die Saporischschja-Straße entlang. „Für die sah ich aus wie ein Vagabund. Ich war nichts. Ich war dreckig und staubbedeckt. Ich lief dann entlang dieser großen Ausfallstraße aus der Stadt hinaus. Als ich oben auf einer Anhöhe am Stadtrand angekommen war, drehte ich mich um. Ich blickte auf die Stadt herunter und sagte mir: Es war die richtige Entscheidung. Ich verabschiedete mich. Irgendwo gab es eine Explosion. Ich drehte mich wieder um und marschierte weiter.”

Das Mariupol, das Igor Pedin verlässt, ist eine zerstörte Stadt

Foto: Stringer/AFP via Getty Images

Pedin lief an ausgebrannten Militärfahrzeugen vorbei, der Lärm von Beschuss hinter ihm, bis ein Konvoi von Panzerfahrzeugen an ihm vorbeiraste, die so schwer waren, dass sie den Asphalt unter seinen Füßen erzittern ließen. Da duckte er sich, steckte den verängstigten Schu-Schu unter seinen Mantel, bis sie vorbei waren. „In dem Moment war ich ein unsichtbarer Mann“, erinnert er sich. „Was war ich denn für sie? Was ist das für ein Schatten?”

Ein Wodka auf den getöteten Sohn

Sein erstes Ziel war die Stadt Nikolske, 20 Kilometer von Mariupol entfernt. Als er die ersten Häuser erreichte, wurde es bereits dunkel und sehr kalt. „Ein Mann, der vor seinem Haus stand, sprach mich an: Willst du etwas mit mir trinken? Heute habe ich meinen Sohn beerdigt. Komm, wir trinken auf meinen Sohn.“ Eigentlich habe er vor 15 Jahren das Trinken aufgegeben, erzählte Pedin, aber es war natürlich nicht möglich, die Einladung abzulehnen. Während er zwei kleine Wodka trank, leerte sein neuer Bekannter eine ganze Flasche. „Er erzählte, sein 16-jähriger Sohn sei am 3. März in Mariupol von Russen getötet worden. Ein Granatsplitter hat seinen Kopf abgerissen. Als der Junge verschwunden war, suchte sein Vater ihn wochenlang in Mariupol. Schließlich fand er sein Grab. Russische Soldaten sagten, er müsse ihn mit den Händen ausgraben, wenn er die Leiche haben wolle. Zu mir sagte der Mann: ‚Ich will sterben – ich bringe mich um‘.“

In der Nacht schlief Pedin auf der Couch im Haus. Um sechs Uhr morgens setzte er seinen Weg nach Saporischschja fort. Dafür musste er durch die Stadt. „Am Ausgang kam ich an einen Checkpoint: Tschetschenen. Sie entdeckten mich und zwei von ihnen kamen auf mich zu. ‚Wohin willst du? Woher kommst du?‘, fragten sie. ‚Warst du schon in einem Filtrationslager?’“ In diesen Lagern werden ukrainische Männer von russischen Soldaten darauf untersucht, ob sie zu einer kämpfenden Einheit gehören. Ein Kommandeur kam dazu und rief über Funk jemanden an. „Dann tauchte ein Minivan auf, drei große Männer stiegen aus und ich wurde in den Van gesetzt. Wir fuhren zwei Kilometer zurück nach Nikolske zu einem zweistöckigen Behördengebäude, das von einem Stahlzaun umgeben war. Rund 40 Leute warteten draußen auf dem Gelände, aber der Van fuhr direkt zum Gebäudeeingang.

Pedin ließ seinen Koffer draußen und band Schu-Schu fest. Dann brachte man ihn in den zweiten Stock. „Hinter einem Schreibtisch saß ein russischer Offizier und fragte mich, wohin ich unterwegs sei. Ich log ihn an. Ich sagte, ich hätte ein Magengeschwür und müsse nach Saporischschja, da ich schon für die Behandlung bezahlt hätte. Ich wurde aufgefordert, den Oberkörper frei zu machen. Sie suchten nach Tattoos. Ich hatte einen blauen Fleck an der Schulter. Daher warfen sie mir vor, ein Gewehr gehabt zu haben. ‚Wo sind Ihre Tattoos?‘, wollte der Kommandeur wissen und dann: ‚Du langweilst mich. Soll ich dich vielleicht schlagen?‘ Ich antwortete: ‚Wie Sie wünschen, Herr Kommandeur.‘ Aber man brachte mich in einen anderen Raum. Dort saßen vier Frauen, die zum Militär gehörten, an Computern. Sie scannten meine Fingerabdrücke, stellten mich gegen eine Wand und machten eine Art Fahndungsfotos.”

Kreuze am Straßenrand

Danach erhielt er ein Dokument des sogenannten Ministeriums für interne Angelegenheiten der selbst ernannten Volksrepublik Donezk. Damit war er frei, zu gehen, wohin er wollte, und machte sich mit seinem Hund und seiner Tasche wieder auf den Weg zum Checkpoint. „Die Tschetschenen sagten, sie würden organisieren, dass mich ein Auto ins nächste Dorf mitnehmen würde, nach Rosiwka. Ich wartete zwei Stunden. Die Soldaten langweilten sich. Sie unterhielten sich mit mir und gaben mir Zigaretten. Als mich niemand mitnehmen wollte, sagte ich, ‚Leute, wisst ihr, ich laufe einfach.‘ Doch einer widersprach. ‚Nein, hier habe ich das Sagen‘ und zeigte auf seine Waffe.“

Nach einer weiteren Stunde hielt ein schwarzer Minivan an und die Tschetschenen zwangen den Fahrer, der seine Frau und zwei Töchter im Alter von 18 und 20 Jahren dabeihatte, Pedin mitzunehmen. „Im Auto wurde kaum gesprochen, aber sie nahmen mich mit nach Rosiwka. Auf der Fahrt bemerkte ich auf den Feldern Großbagger, die Löcher gruben. Und etwas weiter standen Kreuze. Ich bin sicher, dass es Massengräber waren.“

In Rosiwka lief Pedin die Lenina-Straße aus der Stadt heraus und kam erneut an einen Checkpoint, den er mit seinen neuen Papieren problemlos passierte. Weiter ging es ins nächste Dorf – Wersyna. Bis er es erreicht hatte, war es stockdunkel. „Plötzlich wurde ich von Taschenlampen geblendet. Es waren sechs Soldaten, die mich anblafften. Ich hob meine Hände. Sie befahlen mir, mein Oberteil auszuziehen, und leerten meine Tasche aus. Dabei war es eisig kalt. Dann musste ich ihnen folgen. Wir gingen ins „Haus der Kultur“, also das Gemeindezentrum, das ihnen als Hauptquartier diente.“ Pedin erhielt Büchsenfleisch, eine Suppe und ein kleines Zimmer, in dem in einer Ecke ein Metallbett stand. Sie drohten: Wenn er vor dem Morgen das Zimmer verlassen würde, würde man ihn erschießen. Aber am nächsten Tag ließen sie ihn weiterziehen.

Morgens schlich er sich an den schlafenden Soldaten vorbei und nickte der Wache zum Abschied zu. An diesem Tag lief er 14 Stunden. Gegen acht Uhr abends kam der nächste Checkpoint; die nächste Durchsuchung. Die Soldaten ließen ihn in einem kleinen verlassenen Haus schlafen. Als um sechs Uhr morgens die Sonne aufging, war er wieder auf der Straße. „Da kam ich an einem Mann vorbei. Er war vielleicht Mitte sechzig und fragte: ‚Woher kommen Sie?‘ Als ich antwortete: Mariupol, rief er seine Frau; sie solle etwas zu essen bringen. Die Beiden gaben mir einen Beutel mit Brot, Zwiebeln, gebratenem Schweinfleisch und Gurke. Sie bestanden darauf. Und ich lief weiter.“

Das Wunder an der Brücke

Unterdessen war Pedin erschöpft. Dabei stand ihm das größte Hindernis noch bevor. Eine Straßenbrücke, die er überqueren musste, war zerstört. Es galt, 30 Meter zu überwinden, ohne auf die drunter durchführenden Eisenbahnschienen zu stürzen. Zum Glück stand die Metallkonstruktion der Brücke noch. Es gab zwei Träger: einen schmaleren unten und einen breiteren auf Schulterhöhe. Pedin band seinen Hund an seine Tasche und probierte zunächst allein, ob eine Überquerung möglich wäre. Es schien machbar. Dann brachte er erst seine Tasche auf die andere Seite. Dann kehrte er wieder zurück und holte den Hund, der auf dem oberen Balken lief, während Pedin auf dem unteren Träger balancierte und die Leine hielt. „Auf der anderen Seite schrie ich einfach nur: ‚Wir haben es geschafft.‘“

Am nächsten Checkpoint fragte ein russischer Soldat, wo sein Begleiter sei. „Ich antwortete: ‚Ich habe nur meinen Hund‘. Dann wollten sie wissen, wie ich die Brücke überquert hätte.“ Diese Nacht durfte Pedin in der hinteren Hälfte eines Übertragungswagens verbringen, der vorne von einer ukrainischen Bombe getroffen worden war. Mittlerweile war es dunkel. Pedins Geschichte war genau die Ablenkung, die die gelangweilten Soldaten brauchten. Fünf von ihnen saßen um ihn herum, um von seinen Abenteuern und dem gewagten Unterfangen, die Brücke zu überqueren, zu hören. „Einer wollte den Kontakt mit mir halten. Er sagte, ich könnte nach dem Krieg bei ihm wohnen. Was sollte ich dazu sagen.“

Menthol-Zigaretten gegen Infos

Pedin schlief in einem Stuhl, mit Schu-Schu unter seinem Mantel. Am nächsten Morgen hieß es, er dürfe nicht nach Saporischschja weiterreisen. Er hatte nur zwei Optionen: zurück über die zerstörte Brücke oder nach Süden in Richtung der Stadt Tokmak. Pedin machte sich in die Stadt auf, aber dazwischen lagen zwei große Anhöhen. „Der Hund konnte einfach nicht mehr. Ich musste erst die Straße mit meiner Tasche hochlaufen und dann zurückkommen und ihn hochtragen. Ich sagte zu ihm: ‚Wenn du nicht läufst, werden wir beide sterben. Du musst laufen.‘ Den zweiten Hügel lief er dann zum Glück selbst hinauf.“

An der Straße lag das Dörfchen Tarasiwka. „In einem Fenster entdeckte ich einen Mann und sprach ihn an. Ich gab ihm einige der Zigaretten, die mir die russischen Soldaten gegeben hatten, es waren sogar Menthol-Zigaretten. Es stellte sich heraus, dass der einzige Weg nach Saporischschja über kleine Straßen und über einen Damm führte, und danach müsse ich den – wie er es nannte – Schmugglerpfad nehmen.“

Pedin folgte der Wegbeschreibung. Aber nach dem Damm kam eine Kreuzung – ohne Hinweis, wohin er jetzt hätte gehen sollen. Doch dann hatte er wieder Glück. „Ein Laster tauchte auf und ich rief: ‚Ich komme aus Mariupol.‘ Da öffnete sich die Kabinentür. Wir fuhren dann zwei Stunden, über Straßen, die sich durch die Landschaft schlängelten. Ich hätte den Weg niemals gefunden. Wir sprachen nicht. An den Checkpoints sagte der Mann nur zwei Worte zu den Milizen der „Volksrepublik Donezk“ und wurde durchgelassen.

Stumm durch die feindlichen Linien

Irgendwann erkannte Pedin plötzlich vor ihnen eine ukrainische Flagge. Grenzsoldaten kontrollierten die Papiere der Männer und ließen sie passieren, Pedin war fast am Ziel. „Der Fahrer setzte mich im Zentrum von Saporischschja ab, direkt neben einem Zelt. Er hatte auf der ganzen Fahrt kein Wort gesagt, aber dann gab er mir 1.000 Hrywna (31,50 Euro) und wünschte mir viel Glück.“

Pedin betrat das Zelt, in dem viele ehrenamtliche Helfer:innen waren. Eine Frau fragte ihn, ob er Hilfe brauche. Erst schwieg Pedin, schließlich antwortete er ja. „Die Frau fragte ‚Wo kommen Sie her?‘ Ich antwortete ‚Ich komme aus Mariupol.‘ Sie rief: ‚Mariupol!‘“, erinnerte sich Pedin mit einem Lächeln. „So laut, dass alle es hören konnten: Dieser Mann ist zu Fuß aus Mariupol gekommen. Alle hielten inne. Ich glaube, das war der Augenblick meines Triumphes.“

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