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Ukraine-Krieg | Debatte um Kriegseintritt und nukleare Eskalation: Ein schmaler Grat


Link [2022-05-21 23:12:43]



Ist Deutschland schon Kriegspartei? Oder tun wir doch zu wenig? In dieser Debatte ist für Besonnenheit kein Platz. Das ist ein Fehler

Vor gut vier Jahrzehnten trieb die Angst vor einem Atomkrieg schon einmal viele um. Die NATO drohte, zur Abwehr gegen sowjetische Atomwaffen selbst nukleare Mittelstreckenraketen zu stationieren. Dagegen mobilisierte die Friedensbewegung Hunderttausende, die einen Slogan besonders gern riefen: „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“

Heute, im Angesicht des russischen Überfalls auf die Ukraine, ist die Furcht wohl noch größer: Die Moskauer Drohung mit Atomwaffen bestimmt die Debatten. Wohl kaum jemand käme auf die Idee, mit dem spontihaften Sarkasmus von 1981 zu antworten. Angemessener wäre eine bittere Abwandlung des Spruchs von damals: Stell dir vor, wir sind schon im Krieg und haben es nur noch nicht gemerkt.

Sind wir also in Wahrheit schon Kriegspartei? Tatsächlich gibt es eine fließende Grenze zwischen Unterstützung der Ukraine einerseits und direkter Teilnahme am Krieg andererseits. Dass etwa eine Flugverbotszone jenseits dieser Grenze läge, hat auch die NATO begriffen, weswegen sie dieses direkte Eingreifen vermeidet. Aber was ist mit den schweren Waffen, die jetzt auch Deutschland liefern will? Lange hatte es so ausgesehen, als erschöpfte sich jede Opposition gegen den zunächst abwägenden Kanzler Olaf Scholz in den Rufen nach immer mehr Militärgerät für die Ukraine, die aus der grünen Partei, der FDP und der „offiziellen“ Opposition der Unionsparteien ertönten. Nun aber hebt endlich die grundsätzliche Debatte an: Welche Hilfe für das überfallene Land erhöht die Gefahr einer nuklearen Eskalation so sehr, dass sie im Zweifel unterbleiben muss? Und: Darf diese Frage überhaupt eine Rolle spielen?

Grauzonen zwischen Nichtkriegsführung und Konfliktteilnahme

Zwar fällt die Linkspartei, mit inneren Brüchen und Sexismus in den eigenen Reihen befasst, für diese Debatte praktisch aus. Aber bei den Grünen regen sich nach langem Schweigen skeptische Stimmen, und vor allem der offene Brief von Prominenten rund um die Feministin Alice Schwarzer, in dem der Westen zur Zurückhaltung aufgefordert wird, sorgt für heftige Reaktionen.

Vereinfacht gesagt, lassen sich zwei Standpunkte ausmachen. Die eine Seite fordert, möglichen Eskalationsschritten des russischen Präsidenten nicht auch noch rechtliche Legitimation zu verleihen, indem die Grenze zur direkten Kriegsbeteiligung der NATO überschritten wird. Sie konnte sich bestärkt fühlen durch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags. Die Kernaussage: Wenn Deutschland der Ukraine zu deren Selbstverteidigung Waffen liefert, wird es dadurch noch nicht zur Kriegspartei. „Erst wenn … auch die Einweisung der Konfliktpartei beziehungsweise Ausbildung an solchen Waffen in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen.“ Mit anderen Worten: Wer nicht nur liefert, sondern auch ausbildet, landet in einer der „Grauzonen zwischen Nichtkriegsführung und Konfliktteilnahme“, wie es im Gutachten heißt.

Die andere Seite fordert, diese Argumente und mögliche Reaktionen von Wladimir Putin erst gar nicht ins Kalkül zu ziehen. Der russische Präsident handele so irrational, dass ihn ohnehin nichts von einem Atomwaffeneinsatz abhalten könne, wenn er ihn denn wolle. Die Hilfe für die Ukraine von seinen möglichen Antworten abhängig zu machen, sei nichts anderes als „Unterwerfung“. Das ist eine moralisch getriebene und insofern nachvollziehbare Position. Aber natürlich muss, wer für sich mehr Rationalität beansprucht als der Hasardeur Putin, auch die Folgen des eigenen Handelns bedenken – und sich dem Dilemma stellen, dass womöglich noch Schrecklicheres heraufbeschwört, wer mit guten Motiven Schreckliches verhindern will.

Konzepte für den Frieden müssen in der Debatte Platz haben

Deshalb ist es gut, dass Alice Schwarzer und andere vor der nuklearen Eskalation warnen und Zurückhaltung bei Waffenlieferungen fordern. Es wäre allerdings noch besser gewesen, wenn sie ihre Erklärung sorgfältiger formuliert hätten. Von denjenigen ist da die Rede, die Moskau „sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern“. Es sollte sich eigentlich herumgesprochen haben, dass niemand Putin ein Motiv „liefern“ muss, damit er verbrecherisch handelt. Aber richtig bleibt: Es macht einen großen Unterschied, ob der Westen als Wahrer des Völkerrechts alles vermeidet, was eine Ausweitung des Krieges durch Moskau auch nur annähernd legitimieren könnte, oder nicht.

Es hilft der Debatte wenig, wenn gegen den Appell nun ein schräger Vergleich gezogen wird: Er lese sich so, als empfehle man Frauen, sich gegen eine Vergewaltigung nicht zu wehren, um den Täter nicht zu provozieren. Diese Analogie ist schon deshalb unfair, weil der Schwarzer-Brief militärische Gegenwehr keineswegs ausschließt, sondern – wenn auch in der Form denkbar ungeschickt – nichts anderes verlangt als eine Risikoabwägung bei allen Mitteln, die gegen Putin eingesetzt werden. Das hat mit „Unterwerfung“ nichts zu tun.

Daran festzuhalten, dass zum Kampf gegen Putin nicht nur mehr Waffen gehören, ist nicht verwerflich. Zusätzlich auf strategische politische Bündnisse zu setzen, auf Diplomatie und mögliche Konzepte für einen, wenn auch fernen Frieden – das ist eine Forderung, die in der Debatte zumindest ihren Platz haben muss. Genau das macht die Demokratie aus, um deren Verteidigung es ja nach allgemeiner Auffassung geht.

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