Am Montag kommt eine Sprachnachricht aus der Westukraine, ein Bekannter, der eigentlich in Berlin lebt, Anfang Februar zu seiner Mutter fuhr, hat sie aufgenommen. Wir schicken uns an Wochenenden Grüße, Aufmunterungen. Ich versuche ihm zu vermitteln, wie sehr der Krieg hier präsent, wie groß die Anteilnahme ist. Wie seltsam es ist, sich an Kriegsnachrichten zu gewöhnen. Er spricht seine Antworten lieber ein, schildert, wie es ihm geht. Sagt sehr häufig, dass alles gut werde. In den Momenten bin ich mir nicht sicher, ob er zu mir spricht.
Montagmorgen also, und mein Bekannter sagt Massaker und Butscha und Irpin. Das werden wir ihnen niemals vergessen und vergeben. Seine Stimme wird dünn. Er macht eine Pause, als müsste er kauen, vielleicht daran, was „niemals vergeben“ bedeutet. Dann sagt er: Krieg ist Krieg, Soldaten kämpfen gegeneinander. Wieder eine Pause, als ringe er mit den Bildern, die er erhalten haben muss. Er und seine Mutter sind an der slowakischen Grenze, bis Butscha und Irpin ist es weit. Krieg also sei Krieg, aber wenn das normale Leute trifft, Zivilisten … dann ist das nicht zu vergeben.
Die Mär vom „gehegten“ KriegÜber das Wochenende haben Algorithmen Bilder mit Sicherheitsschranken angeschwemmt, allerlei Menschen haben sie weitergeleitet, Twitter, Instagram, Facebook, Messengerdienste sind voll davon. Man muss seine Zustimmung geben, mit einem Klick klärt sich die Verpixelung auf, die Einwilligung gibt Motive frei: Tote im Vorgarten, Tote auf dem Gehweg, auf der Straße. Erschossen, manche noch gefesselt. Nachrichtensendungen zeigen Sequenzen, für die Kamerateams im Slalom um Leichen fuhren. Dann müssen sie ausgestiegen sein, für Nahaufnahmen von Schuhen über umgestürzten Fahrrädern. In den Schuhen Füße. Beine ragen aus Bildausschnitten, ebenso wie der Rest der Körper. Detailaufnahmen verwesender Hände. Nachdem ich zwei Bilder freigegeben habe, bereue ich es. Wir müssen uns das nicht anschauen. Wir können der Verpixelung glauben und schauen trotzdem nicht weg.
Krieg ist also Krieg, und daran hält sich die Mär, dass er geregelt, im Duktus von Carl Schmitt „gehegt“ sei. Daneben, abgetrennt, existiere eine andere Dimension, die des Verbrechens. Das ist der Versuch, einen Begriff von Recht in die Misere zu fummeln. In einer Zeit, die lange verweht und vergangen scheint, haben wir in Europa zuletzt darüber diskutiert, in den 1990er Jahren nämlich. Jugoslawien, der zweite Golfkrieg, Ruanda und der Kosovo spielten eine Rolle.
Der gerechte Krieg ist ein juridischer und juristischer Komplex, der politisch mobilisiert wird. Jurist*innen trennen das Recht zur Kriegsführung und die Rechtmäßigkeit von Kriegsführung: Das Ius ad bellum formuliert einen gerechten Kriegsgrund, zu dem legitime politische Autorität und Verhältnismäßigkeit gehören. Es akzeptiert zum Beispiel die Verteidigung von territorialer Integrität und gegen Aggression. Die wichtigsten Regeln des Ius in bello heißen Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten und Verhältnismäßigkeit.
Mit entkörperlichten Vorstellungen vom Krieg haben wir in den 1990er Jahren versucht, einen Schein gerechtfertigter Interventionen zu stützen. Mit Begriffen wie Drohnen und Präzisionswaffen klammern wir uns noch heute an die Idee vom sauberen Unterfangen. Keine kriegerische Auseinandersetzung in den vergangen 30 Jahren hat das bestätigt. Auftritt der Kriegsberichterstattung, insbesondere der Kriegsfotografie.
Bilder aus Tschernihiw, Charkiw, Mariupol zeigen aufgerissene Gebäude, verwüstete Straßen, zermalmte Stadtteile. Zeugnisse einer Gewalt, die nie vorhatte, zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten zu unterscheiden. Das gut sichtbar markierte Gebäude des Roten Kreuzes haben russische Flugzeuge und Artillerie ebenso beschossen wie Kindergärten, Schulen, Wohnblöcke. In den Bildern klingt das Echo von Vukovar und Sarajewo nach, mehr noch das von Grosny und Aleppo. Seit dem Wochenende ist der Blick frei auf die nächste Eskalationsstufe: Butscha, Irpin. Jetzt geht es um Massaker.
Theatrales MomentDer französische Politikwissenschaftler Jacques Sémelin hat das Massaker in einer grundlegenden Studie ins Zentrum seiner Betrachtung gestellt (Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden, Hamburger Edition 2007). Er untersucht den Holocaust, die Genozide in den Jugoslawienkriegen, in Ruanda. Eine zentrale These ist, dass nicht Verschiedenheit, sondern kulturelle und räumliche Nähe größere Gewalt und Gräueltaten provoziert. Nähe wirkt in das, was er das „Imaginäre der Angst“ nennt: Dieses Imaginäre konstruiert eine Gemeinschaft, etwas, das ermöglicht, „wir“ zu sagen. Und es kann militante Gegensätze, Todfeinde produzieren, einfacher und bedrohlicher noch, wenn wir sie gut kennen: die Juden, die Tutsi oder reihum Kroaten, Bosnier, Serben. Also muss man sie umbringen, möglichst bevor sie selbst die Gelegenheit zum Angriff haben.
Das Imaginäre beherbergt eine Dynamik, die über konkrete Kriegsschauplätze wirkt. Es sorgt für einen Prozess, den Sémelin – und vor ihm etwa auch Simone Weil – als gnadenlose Reduktion begreift, die auch jede*n anfasst, der auf die Fotografie schaut. Kriegsbilder prasseln immer schneller, als laut tosender Strom auf uns ein, fordern Empörung, zwingen zu Bekenntnissen: „Im Krieg wird das Individuum verdinglicht; der Einzelne wird auf den Patrioten, den Verräter oder den Feind reduziert. Ob man will oder nicht, der Krieg vereinnahmt alle in einer bestimmten Rolle oder Funktion.“
Das machen Massaker im besonderen Maße. Sie greifen weit über den Ort der Schlachterei hinaus, multiplizieren sich durch Bilder, zielen direkt auf unser Entsetzen und das Imaginäre der Angst. Die Aufnahmen reißen uns hinein in die Kriegslogik: Die Verführung der Gewalt bedient sich unser.
Um die zu entziffern, müssen wir die mit Toten übersäte Straße in Butscha als theatrales Moment lesen. Körper liegen dann nicht zufällig hier. Dass sie gefunden, Bilder von ihnen produziert werden, ist Teil der Inszenierung. Schilderungen über Vergewaltigungen, die erschossenen Passanten, die durchlöcherten und mit Panzern zermalmten Privatwagen sind kein Versehen oder Nebenprodukt einer kriegerischen Handlung. Sie siedeln an ihrem Kern. Genauso drapieren Drogengangs in Mexiko Tote, Gefolterte, erstellen ein Zeichensystem des Grauens. Der Grund dafür ist banal: weil sie es können. Sie zelebrieren ihre unwidersprochene Macht über Leben und Tot. Die bildliche Konkretion soll uns die Täter fürchten lassen wie nichts sonst.
Mehr sogar, ihre Machtgewissheit befeuert die Provokation, treibt die Bestialität an: Sie fordert von denen, die auf die Bilder schauen, ein Eingeständnis ihrer Ohnmacht. Einer wirkungslosen moralischen Empörung. Oder ein Eingreifen. Es ist eine unverhohlene Forderung, in der Form eine Art archaisch-männliches Gebaren, sich auf Gewalt einzulassen, sich in ihr zu messen. „Kommt doch her, wenn ihr was wollt“, sagen die Bilder, „oder schweigt.“ Der Boulevard als großer Vereinfacher, soziale Medien, ungeeignet für moralische Debatten, verbreiten diese Botschaft.
Wir kehren hinterher aufDie Weltöffentlichkeit hat monatelang mit Gleichgültigkeit auf die Ermordung der Tutsi geblickt, jahrelang auf die Belagerung Sarajewos, die Erschießungen, Vergewaltigungen und Bombardements in Grosny. Butscha ist ein Zeichen, dass auch drastische Wirtschaftssanktionen nicht gewirkt haben. Dabei sind die Produktion von Bildern, das Zusammenklauben von Zeugenaussagen, die sorgfältige Aufarbeitung wichtig – sie werden Teil einer Strafverfolgung. Internationale Gerichtsprozesse schließen aber das Geständnis von Ohnmacht in sich ein: Wir haben Butscha nicht verhindert, wir haben in Sarajevo lange nicht eingegriffen. Wir kehren hinterher auf.
In der Ukraine sehen wir, dass moderne Staaten, warenproduzierende Gesellschaften kaum Instrumente haben, um Vernichtungsfeldzüge und Massaker zu verhindern: Ihre vorrangige Aufgabe ist es, eigene Interessen zu schützen, ihr Territorium, ihre Güter, die eigene Wirtschaft, Kultur und Bevölkerung. Doomscrolling als emotionalisierte Heimarbeit ist keine Anteilnahme, wer die Aufnahmen über Twitter verbreitet, bedient keine Berichtspflicht. Die Beliebtheit der Bilder zeigt, wie sehr wir damit beschäftigt sind, unsere Ohnmacht zu überdecken. Die Aufnahmen blicken auf uns als Voyeur*innen zurück.
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2024-11-10 05:46:21