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Ukraine-Krieg | Anti-NATO-Kongress in Berlin: Von Tauben und Falken


Link [2022-05-25 08:39:04]



Kritiker der NATO suchen in Berlin Wege zum Frieden. Mit dabei: Daniela Dahn, Eugen Drewermann, Norman Paech und Oskar Lafontaine. Dagegen protestieren vor Ort einige Menschen, die meinen, das sei durchgeknallte Träumerei

Vor dem Eingang zur Humboldt-Universität in Berlin grüßt sarkastisch ein Plakat: „Guten Tag, Verschwörungstheoretiker und nützliche Idioten!“ Mit lauter Musik protestiert ein Grüppchen gegen den Kongress „Ohne NATO leben – Ideen zum Frieden“, der an diesem Samstag hier tagt. Im Gang agitiert penetrant der Spartakusbund: „Schmeißt die EU/NATO-Unterstützer aus der Linken!“ Auf der Straße brüllt ein Mann mit Ukraine-Flagge in Richtung Teilnehmer: „Ihr habt doch nicht alle Latten am Zaun!“ Der Ordner mit gelber Warnweste über blau-weißem Friedenstauben-T-Shirt lächelt sanft, als wäre ihm der Lärm peinlich.

Die Geschmähten sind jedoch so wenige nicht, mehr jedenfalls, als in den Hörsaal 2094 passen; viele arrangieren sich deshalb mit einem ruckeligen Livestream in der Lobby. „Der Kongress ist antiwissenschaftlich und unmoralisch“, antwortet auf die Frage, wogegen genau sie hier protestiere, eine junge Frau namens Dascha, den Nachnamen mag sie nicht nennen. Dascha ist überzeugt: „Die wollen die Ukraine zum Frieden zwingen!“

Als ob die Friedensbewegung so viel Macht hätte. Zwar fordert sie im Einladungsschreiben: „Sofortiger Waffenstillstand, verhandeln statt schießen! Kompromisse ohne Gesichtsverlust für jede der beiden Seiten!“ Aber wer in diesem Krieg von Frieden redet, wird alsbald zum „Putinisten“, „Utopisten“, wahlweise für „naiv“ oder „durchgeknallt“ erklärt. „Sie träumen schön weiter vom Frieden in der Welt während Armeen Fakten schaffen“, heißt es in einem Online-Kommentar, der gegen die Veranstaltung Stimmung macht, jemand anders meint: „Es läuft einem kalt den Rücken herunter“, oder: „Die sind doch nicht ganz frisch. Ich will in der NATO bleiben.“ Und: „Diese Teile der Linken sind auf dem Weg ganz nach rechts.“

Putin-Propaganda, was sonst!

Denn das weiß heute jedes Kind: Wer gängige Narrative hinterfragt – und ja, dabei kommen auch abstruse Vorstellungen zum Ausdruck –, ist „rechts“. Bei dem Etikett guckt keiner mehr genau hin, was in der Einladung eben auch steht: „Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig.“ Um jeder Kontaktschuld vorzubeugen, distanzieren sich Abgeordnete von Linkspartei und SPD, wobei sie, wie es üble Mode geworden ist, auf Argumente verzichten und stattdessen die Gesinnung ins Visier nehmen: „Die Teilnehmerliste des Kongresses liest sich wie ein Who’s who der Putin-Versteher und Faktenverdreher“, betont etwa Ukraine-Versteher Michael Roth, SPD-Mann und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland; er wittert Putin-Propaganda, was sonst! Wessen Propaganda womöglich die aufsitzen, die immer mehr Waffen fordern, fragt er nicht. Vermutlich würde die Frage als „verschwörungstheoretisch“ zurückgewiesen. Desinformation betreibt bekanntlich nur der Feind.

Die ins Feld geführte Moral – „Solidarität mit der Ukraine!“ – werde im Krieg instrumentalisiert und verhindere Menschlichkeit, so sieht es drinnen auf dem Kongress der katholische Dissident, Pazifist und aufgrund seiner Impfgegnerschaft als „Querdenker“ geltende Eugen Drewermann in seiner „Rede gegen den Krieg“. Sobald „das absolut Böse“ – Wladimir Putin als Dämon, als Hitler gar – feststehe, seien „die Guten“ ihres Besserseins sicher, denn „niemand wird die eigene Sache als falsch erklären“. Er findet eine Logik der Abschreckung unmenschlich, in der Angst durch immer mehr Angst in Schach gehalten werden soll. Ihr Preis sei, „böser sein zu müssen, als jeder Böse es sein könnte“.

Ähnliches gilt womöglich für „die hybride Kriegführung um Medien und Köpfe“, wie der ebenfalls als „Verschwörungstheoretiker“ verdächtig gewordene Wissenschaftsjournalist Ekkehard Sieker ausführt. Als Reaktion auf russische Desinformation habe die EU 2015 die East Stratcom Task Force gegründet, doch diese unter anderem mit der NATO kooperierenden „Faktenchecker sind nur die Bodyguards der Herrschenden“. Das „Strategische Kommunikationsteam Ost“ soll ein positives Bild der EU vor allem in Osteuropa verbreiten. Man könnte auch „Gegenpropaganda“ dazu sagen, aber das wäre dann wieder – „Verschwörungstheorie“? Immerhin stehen die „Fake-News-Krieger“ der EU seit 2018 wegen intransparenter, fehlerhafter Recherche und mangelnder Rechtsgrundlage in der Kritik, nachdem sie zunächst eher unkritisch bejubelt wurden. Die supermachtpolitischen Interessen, die zum verwerflichen Krieg in der Ukraine geführt haben, geraten derweil zunehmend aus dem Blick.

Die Mitverantwortung der NATO werde erfolgreich aus der öffentlichen Debatte herausgehalten, konstatiert der Politikwissenschaftler Norman Paech. „Wir wollen keinen russischen Diktatfrieden“, stellt die Publizistin Daniela Dahn klar, „aber wir wollen auch keinen NATO-Diktatfrieden.“

Auftritt Oskar Lafontaine

Die NATO habe ihren Anteil an diesem Krieg – das meint, per Video zugeschaltet, der Ex-Genosse Oskar Lafontaine. Oligarchische Systeme führten zwangsläufig zum Krieg: „Wir brauchen eine andere Wirtschaftsordnung, um zum Frieden zu finden.“ Seine Kriegskritik erhält Unterstützung von unerwarteter Seite. Die bislang nicht der „Schwurbelei“ verdächtige New York Times warnte jüngst, wie Lafontaine, vor einer Ausweitung des Krieges, fragte nach den Zielen – und nach den Grenzen westlicher Unterstützung für die Ukraine. In Deutschland wäre der Autor des Artikels wohl umgehend als „Lumpenpazifist“ angeprangert worden.

„Es geht darum, Leben zu retten“, erinnert Lafontaine. Stattdessen drehe sich alles um Sieg, Niederlage, Waffen. Aber „wer den Waffen das Wort redet, redet dem Töten das Wort, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist“. Die Entspannungspolitik der vergangenen Jahrzehnte sei nicht falsch gewesen. Der „Schlüssel“ zur europäischen Stabilität liege weiter „nicht in Kiew oder in Warschau, sondern in Moskau“. Und es sei „eine Frage der Realpolitik“, anzuerkennen, „dass Krim und Donbass nicht mehr zur Ukraine zurückkehren“. Statt ihn zu sichern, gefährde die NATO den Frieden in Europa. Deren Erweiterung an der „Ostflanke“ hält er für eine „falsche Entwicklung“. Nötig seien sofortige Waffenstillstandsverhandlungen, „eine neutrale Zone zwischen den Blöcken“ und mittelfristig ein europäisches Verteidigungsbündnis „ohne kapitalistische Oligarchie“, angeführt von Deutschland und Frankreich. Europa dürfe sich nicht einspannen lassen in die Kriegstreiberei der Supermächte. Dabei handle es sich um „ein großes Programm zur Verarmung, zur Schwächung der Wirtschaft und zum Abbau von Arbeitskräften“, das zudem durch Verknappung Profit aus dem Hunger im globalen Süden schlage. „Es wäre im Interesse der ganzen Welt, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden“, resümiert Lafontaine, „wir dürfen nicht müde werden, dem herrschenden Zeitgeist zu widersprechen“ – einem Zeitgeist, der das rechte Maß an „Solidarität“ durch die Menge an Panzern definiert und allem misstraut, was nach Verhandlungsbereitschaft riecht.

Nur rund 100 Meter entfernt tagt am selben Abend der „Salon Sophie Charlotte“, in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Das kriegsbedingte „Aufwachen in der neuen Realität“ verhandeln dort unter anderem Osteuropa-Historiker Karl Schlögel, der eine Flugverbotszone forderte, und Militärhistoriker Sönke Neitzel, der Bundeskanzler Olaf Scholz’ Ruf nach einer Waffenruhe als „Wunschdenken“ abkanzelt und unterstellt, das Bild eines ängstlichen, „schwachen“ Westens habe Putin zum Angriffskrieg ermutigt.

Es wäre interessant gewesen, Tauben und Falken zusammenzubringen – nicht, damit sie einander die Augen aushacken, sondern um konkrete Antworten auf die Frage zu finden, die auch der Kongress in der Humboldt-Uni nicht beantwortet hat: „Wie kann der Krieg in der Ukraine gestoppt und wie können die Sicherheitsinteressen der Ukraine und Russlands gewährleistet werden?“ Ein Waffenstillstand hierzulande könnte ein erster Schritt sein: indem die Kombattanten aus ihren Meinungsbunkern heraustreten und in Auseinandersetzungen ohne Diffamierungen ihren Blick weiten. Denn vielleicht beginnt die wahre Verschwörungstheorie in den Köpfen derer, die Falschinformation und Propaganda jeweils ausschließlich auf der Gegenseite verorten.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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