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Ukraine-Konflikt | Hand am Hahn


Link [2022-01-24 20:06:34]



Den russischen Sicherheitsinteressen Rechnung zu tragen, das dient den Versorgungsinteressen Deutschlands und der EU bei Erdgas am besten. Oder ist US-Flüssiggas etwa eine Alternative?

Je länger der Konflikt zwischen Russland und den USA wie der NATO um die Ukraine andauert, desto mehr führt das in Deutschland zu einer Hochzeit für denunziatorische, antirussische Rhetorik. Nur ein Beispiel: Vor dem Baerbock-Besuch in Moskau wird der russische Außenminister Sergej Lawrow in hiesigen Medien als „berüchtigt“, „bärbeißig“ und „mit allen Wassern gewachsen“ etikettiert. Kindergarten-Geplapper könnte man abwinken, doch wäre das angebracht? Das Gesprochene und Geschriebene reicht, um das Gemeinte mehr als nur anzudeuten. Die Botschaft: Der Gesprächspartner auf der anderen Seite ist viel zu durchtrieben, als dass man ihm trauen dürfte. Kann man das nicht oder nur bedingt – was lässt sich dann mit ihm verhandeln oder gar aushandeln?

Es ist zunehmend verstörend und quälend, dem Sound einer Politiker- und Journalisten-Generation ausgesetzt zu sein, die bestenfalls die Spätphase des Kalten Krieges bewusst miterlebt hat, mit sich selbst hochzufrieden ist und ein Hochgefühl der moralischen und kulturellen Überlegenheit gegenüber Russland auskostet, wie es geschichtsloser kaum sein kann.

An- und Absagen

Plötzlich übernimmt auch der einstige Kurzzeit-Außenminister und Ex-SPD Chef Sigmar Gabriel den Part des Einpeitschers. Während sein Parteifreund Matthias Platzeck als Vorsitzender des Deutschen-Russischen Forums am 17. Januar in den ARD-Tagesthemen mit der Formulierung aufhorchen lässt, dass es an der Zeit sei, russischen Sicherheitsbedürfnissen Rechnung zu tragen („Ich glaube, wenn wir diesen Schritt nicht tun …, dann wird es diese Friedenssicherung auf unserem Kontinent nicht geben. Wir haben Versäumnisse zugelassen, wir waren nachlässig, wir waren in Teilen in den vergangenen drei Jahrzehnten auch arrogant“), erteilt Gabriel der Erdgaspipeline „Nord Stream 2“ eine mehr oder weniger klare Absage.

Damit nicht genug. In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 23. Januar verlangt Gabriel zusammen mit Janusz Reiter, Polens Ex-Botschafter in Deutschland, dass man sich auf einen Krieg einzustellen habe. Wörtlich heißt es: „So sehr für uns Europäer Krieg undenkbar erscheint, so sehr wird militärische Gewalt in Russland offenbar als Mittel zur Durchsetzung politischer Interessen erachtet. Die Kluft zwischen der sprunghaften Realität der internationalen Politik und dem deutschen Bewahrungsbedürfnis wird gefährlich tief“.

30 Tage Gnadenfrist

Was verheißt dieses Bedürfnis nach Kampfansage und -bereitschaft dem Energiesektor, der Gasversorgung in Deutschland oder in der EU überhaupt? Was bedeutet es, auf diesem Feld das „Bewahrungsbedürfnis“ aufzugeben, quasi den Status quo? Anders formuliert, aufs Spiel zu setzen, was bisher als gesichert gilt?

Um es durchzugehen: Sollte „Nord Stream 2“ tatsächlich boykottiert oder letztlich völlig zum Scheitern gebracht werden, kann nicht ausgeschlossen werden, dass Russland den Gastransit über die Trasse „Nord Stream 1“ und die Leitung durch die Ukraine komplett unterbricht oder temporär unterbindet. Kiew würde damit Transitgebühren verlieren, aber zugleich Ressourcen für die nötige Eigenversorgung. Und das im Winter. Beides war bisher nicht zuletzt durch den Einsatz der Regierung Merkel und ein Abkommen zwischen Russland und der Ukraine aus dem Jahr 2020 garantiert – eine Bedingung für die Inbetriebnahme der Ostseepipeline nach deren Fertigstellung. Findet die nicht statt, kann das Kiew mehr schaden als ein Start des Projekts.

Und Deutschland? Hier werden derzeit mit pro Tag 270.000 Millionen Kubikmetern Erdgas aus Russland fast 20 Prozent seines Gesamtbedarfs abgedeckt. Bei der Europäischen Union liegt die Quote im Schnitt bei mehr als einem Drittel des Verbrauchs. In der Konsequenz heißt das, im Winter, also im Augenblick, ließe sich maximal 30 Tage ohne diesen Energietransfer aus dem Osten auskommen. Dann aber müsste dringend auf Alternativen zurückgegriffen werden.

Nur haben die meisten EU-Staaten nicht die Möglichkeiten, kurzfristig für Abhilfe zu sorgen. Unter anderem deshalb, weil ihre Gasspeicher entweder im Moment nicht maximal gefüllt sind oder zu geringe Speicherkapazitäten vorweisen, um Lieferengpässe zu kompensieren. Nur vier Mitgliedsländer – Deutschland, Italien, die Niederlande (als Eigenproduzent) und Frankreich – verfügen über ein jeweils nennenswertes Speichervolumen, das zwischen 230.000 und 130.000 Gigawattstunden (GWh) liegt. Deutlich darunter rangieren die Kapazitäten zur Bevorratung etwa bei Polen (35.800 GWh) oder, sicher auch klimabedingt, bei Portugal (3.600 GWh).

Auslastung 99 Prozent

Alternativen beim Faktor Belieferung sind kaum vorhanden. Sollte erwogen werden, noch mehr Flüssiggas aus den USA per Schiff über den Atlantik zu holen, wäre zu beachten, dass bei einem dann wohl unerlässlichen Preisschub (Anfang 2022 kostete eine Megawattstunde an der internationalen Gasbörse in den Niederlanden über 170 Euro, so viel wie noch nie) größere Ausfuhren nach Europa undenkbar sind. Die Terminals für den Gasexport am Golf von Mexiko produzieren an der Kapazitätsobergrenze und exportieren bei durchweg zu 99 Prozent ausgelasteten Anlagen.

Überdies sollte bei alldem nicht übersehen werden, dass es sich bei den US-Produzenten um private Unternehmen wie EOG Resources und Chesapeake Energy mit Jahresumsätzen um die fünf bis zehn Milliarden Dollar handelt. Sie können nicht wie Staatsbetriebe durch den US-Präsidenten dazu angehalten werden, die EU vor akuter Unterversorgung zu bewahren. Sie haben ihre vertraglich gebundenen Abnehmer in Asien – in Japan und Südkorea vor allem, demnächst womöglich in China.

Beide verwundbar

Und was wäre es – nebenbei gesagt – für ein skurriles Fiasko, wenn die deutsche „Umwelt- und Klimaregierung“ der „Fracking-Revolution“ in Nordamerika nun auch in Europa zu einem eindrucksvollen Durchbruch, weil Absatzmarkt verhilft?

Bei der Energieversorgung sind beide Seiten, die EU und Russland, verwundbar, weil voneinander abhängig. Im Osten werden die Einnahmen gebraucht, im Westen die Auslieferung. Man könnte geradezu von einer materiellen Basis der Friedenssicherung sprechen, würde das Bewusstsein dafür nicht in so verhängnisvoller Weise die Realitäten ignorieren.

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