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Ukraine | Gräueltaten in Butscha: „Sie wurden alle erschossen“


Link [2022-04-04 04:16:04]



Erschossene Zivilisten auf den Straßen, Massengräber: Nach dem Rückzug russischer Truppen aus der Stadt Butscha offenbart sich ein Bild des Grauens. Russland werden Kriegsverbrechen vorgeworfen

Bei ihrem Rückzug aus der Gegend rund um Kiew haben russischen Truppen verstörende Beweise ihrer Gräueltaten an der Zivilbevölkerung hinterlassen. Die Vororte der ukrainischen Hauptstadt und weiteren Städten der Region sind durch Wladimir Putins Invasion in verheerende Kriegsgebiete verwandelt worden.

Als ukrainische Panzerkolonnen in das nordwestlich von Kiew gelegene Butscha einfuhren, fanden sie Straßen vor, die durch ausgebrannte russische Panzer und Militärfahrzeuge blockiert und mit den Leichen von Zivilisten übersät waren. Nach Angaben der Bewohner von Butscha wurden die Menschen ohne jeden Grund von den Invasionstruppen getötet.

Fotos aus der Stadt zeigen ein Bild der Verwüstung: Entlang einer Straße reihen sich verkohlte und zerstörte Panzer und gepanzerte Fahrzeuge aneinander, daneben liegen getötete Menschen. Reporter der Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP) sahen mindestens 20 Leichen, alle in Zivilkleidung, über eine einzige Straße in Butscha verteilt.

Laut AFP-Berichten, seien drei der Menschen über ihren Fahrrädern zusammengebrochen gefunden worden – allem Anschein nach während der Fahrt getötet. Andere hätten neben von Kugeln zerfetzten und zertrümmerten Autos gelegen. Einem getöteten Zivilisten seien die Hände mit einem weißen Tuch auf dem Rücken gefesselt gewesen, berichten Journalisten aus der verwüsteten Stadt. Neben der Leiche habe offen sichtbar der ukrainische Pass des Mannes gelegen.

„Das ist ein Kriegsverbrechen“

„Al diese Menschen wurden erschossen“, sagte der Bürgermeister von Butscha, Anatoli Fedoruk, gegenüber AFP. Zudem seien weitere 280 Menschen in Massengräbern in der Stadt begraben worden. „Das sind die Folgen der russischen Besatzung“, so Fedoruk.

Ukrainische Soldaten, von den Einwohnern Butschas herzlich empfangen, zogen die Leichname mit Kabeln von der Straße, aus Sorge, dass sie mit Sprengfallen versehen sein könnten. Die Soldaten räumten auch Barrikaden, untersuchten verdächtige Objekte und legten rote Lappen auf die Überreste nicht explodierter Munition, um auf die Gefahr von Explosionen hinzuweisen.

Die 55-jährige Halyna Tovkach berichtete dem Guardian nach der Befreiung der Stadt, sie suche nach der Leiche ihres 62-jährigen Mannes Oleg. Er wurde zusammen mit ihren Nachbarn – zwei kleinen Jungen und deren Mutter – von russischen Soldaten getötet, als sie am 5. März versuchten, aus der Stadt zu fliehen. „Das ist ein Kriegsverbrechen“, so der Sohn von Tovkach.

Unter den von den russischen Soldaten getöteten Zivilisten sollen sich auch Olha Sukhenko, die Vorsteherin des Dorfes Motyzhin östlich von Kiew, und ihre gesamte Familie befinden. In einem Dorf in der Nähe von Butscha wurde die Leiche des vermissten ukrainischen Fotografen Maksim Levin entdeckt.

Kinder als Schutzschilde

In einem weiteren vorgeworfenen Fall von Kriegsverbrechen sollen russische Truppen bei einer Neugruppierung Kinder als „menschliche Schutzschilde“ eingesetzt haben. Der ukrainische Generalstaatsanwalt erarbeitet derzeit ein Dossier mit Berichten, wonach russische Truppen beim Rückzug aus der Umgebung von Kiew und anderen Orten Kinder als Schutzschilde eingesetzt haben. In Novyi Bykiv, einem Dorf in der gut 150 Kilometer nördlich von Kiew gelegenen, eingekesselten Stadt Tschernihiw, sollen Busse mit Kindern vor Panzern aufgestellt worden sein.

Die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten berichten von zunehmenden Anzeichen dafür, dass Russland seine Streitkräfte aus der Umgebung von Kiew abzieht und seine Truppenstärke in der Ostukraine erhöht. Die sichtbare Veränderung bedeutet bislang jedoch nicht, dass der mehr als fünf Wochen andauernde Krieg in der Ukraine ein Ende hat oder dass die mehr als vier Millionen Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind, bald zurückkehren können.

In seiner nächtlichen Videoansprache am Samstag wiederholte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Warnung, russische Truppen wollten den Donbass und den Süden der Ukraine einnehmen: „Wir sind uns bewusst, dass der Feind Reserven hat, um den Druck im Osten zu erhöhen“. Er kündigte jedoch an, den Kampf gegen die russischen Truppen im Donbass und beim Rückzug aus der Region um Kiew aufzunehmen. „Wir verstärken unsere Verteidigung in östlicher Richtung und im Donbass“, so Selenskyj. „Was ist das Ziel der russischen Truppen? Sie wollen sowohl den Donbass als auch den Süden der Ukraine einnehmen.“

Selenskyj beklagte, dass die „globale Sicherheitsarchitektur versagt“ habe. Die Ukraine habe „noch nicht genügend moderne westliche Raketenabwehrsysteme“ von ihren Verbündeten erhalten und auch keine Flugzeuge bekommen. Der ukrainische Präsident fügte hinzu: „Jede russische Rakete, die unsere Städte trifft, und jede Bombe, die auf unser Volk, auf unsere Kinder abgeworfen wird, macht die Geschichte nur noch schwärzer, die jeden beschreiben wird, von dem diese Entscheidung abhing.“

Luftangriffe auf Odessa

Unterdessen hat es in der ukrainischen Hafenstadt Odessa am Sonntagmorgen eine Reihe von Explosionen gegeben. „Odessa wurde aus der Luft angegriffen. Einige Raketen wurden von der Luftabwehr abgeschossen“, teilte die Stadtverwaltung in einer kurzen Erklärung über den Messenger-Dienst Telegram mit.

Der ukrainische Friedensunterhändler, David Arakhamia, sagte laut AFP, dass Russland die ukrainische Position zu den Friedensgesprächen „mündlich“ akzeptiere – mit Ausnahme der Krim-Frage. Moskau habe auch zugestimmt, dass ein Referendum über den neutralen Status der Ukraine „der einzige Ausweg aus dieser Situation sein wird“.

Arakhamia erklärte gegenüber ukrainischen Fernsehsendern, dass ein Treffen zwischen Selenskyj und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, wenn es denn zustande käme, „mit großer Wahrscheinlichkeit“ in der Türkei stattfinden würde.

Kritik an Deutschlands Haltung gegenüber Russland

Am Sonntag war auch Kritik an der Rolle Frankreichs und vor allem Deutschlands aufgekommen. In einem Interview mit der Welt warf der stellvertretende polnische Ministerpräsident Jarosław Kaczyński Frankreich und Deutschland eine zu große Nähe zu Russland vor. Zudem verurteilte er das Verhalten Berlins gegenüber Moskau vor dem Einmarsch in der Ukraine. „Deutschland hat ebenso wie Frankreich einen starken Hang nach Moskau.“, so Kaczyński, der auch Vorsitzender der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ist.

Kaczyński sparte sich seine schärfsten Worte für Berlin auf und sagte, Polen sei mit der Rolle Deutschlands in Europa nicht zufrieden. Mit Blick auf die deutsche Haltung gegenüber Russland sagte Kaczyński: „Die Bundesregierung hat jahrelang nicht sehen wollen, was Russland unter Putins Führung macht. Das ist schlecht ausgegangen, wie wir jetzt sehen. Es war aber nicht schwer vorauszusehen, dass es so kommen würde. Aber Deutschland wollte es immer besser wissen.“

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