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Ukraine-Flüchtlinge | Ohnmächtige Staaten: Hilfe läuft über privaten Sektor


Link [2022-03-12 15:59:11]



Hooligans, die Jagd auf Ausländer machen. Freiwillige, die Flüchtenden zu helfen versuchen. An der ukrainisch-polnischen Grenze zeigt sich: Auf den Staat ist bei der Bewältigung dieses Krieges kaum zu setzen

Sie will doch nur, dass ihre Kinder nicht den Bus vollkotzen, aber keiner versteht sie. Und so redet die ukrainische Mutter aufgeregt auf den deutschen Busfahrer ein, zuerst auf Ukrainisch, dann auf Russisch. Ihren Kindern werde im Bus immer schlecht. Sie bräuchten Tabletten gegen Reiseübelkeit oder einen Platz ganz vorne, am besten beides. Aus dem Bus dringen buschige, weiße Abgaswolken in die frostige Nacht, hinter seine Frontscheibe ist ein Schild geklemmt: „Berlin – for free.“

Im Bus sitzen Geflüchtete aus der Ukraine, der Fahrer ist ein Freiwilliger, die Mutter eine Verzweifelte. Ihre beiden Töchter stehen mit weit aufgerissenen Augen hinter ihr, haben sichtlich Mühe, wach zu bleiben. Ich gehe hin und übersetze ihre Worte dem Busfahrer. Er erlaubt ihr, am nahen Bahnhof eine Apotheke zu suchen. Sie rennt los, vorbei an elf polnischen Polizisten, die so starr an der Straßenecke herumstehen, als wären sie Statuen.

Millionen Menschen flüchten dieser Tage aus der Ukraine gen Westen. Sie haben schon jetzt viele Grenzorte verändert, vor allem, was die Balance zwischen privater Initiative und staatlichen Strukturen angeht. Wie von manchen lange erträumt, scheint der Staat nur noch ein Nachtwächter, ein säulengleich in die Nacht starrender Polizist, der die wichtigsten Kreuzungen bewacht – mehr aber auch nicht.

In Deutschland ist dieser Nachtwächter bald gar stark bewaffnet, wenn die angekündigten 100 Milliarden Euro „Sondervermögen“ in die Bundeswehr fließen. Zumindest ein anderer Name wäre wohl angebracht gewesen, schließlich nennt der Kreml seinen Angriffskrieg „Sonderoperation“. In einem Konflikt werden sich die Feinde oft ähnlicher, als sie wahrhaben wollen, und sei es nur terminologisch.

Im polnischen Przemyśl aber geht es in der ersten Kriegswoche nicht um Abschreckung, sondern darum, Geflüchtete zu versorgen.

Es ist eigentlich ein Wunder, dass es klappt, dass alle eine Mahlzeit und Windeln für ihre Kleinsten kriegen, einen Transport und kostenlose polnische Simkarten, verteilt von einer Zeitarbeitsfirma. Häufig kommen Freiwillige an und fragen, bei wem sie sich melden sollen, um mitzuhelfen, wer hier alles koordiniere – niemand weiß es, weil hier niemand alles koordiniert. Neben den Polizisten ist die sichtbarste Anwesenheit des Staates eine eigens geöffnete Logistikhalle unweit des Grenzübergangs Korczowa, voller Feldbetten, auf denen Menschen aus Zentralasien liegen. Viele erzählen, dass sie nicht wüssten, wohin sie gehen sollen. Ein Flug in die Heimat sei teuer, „und es gibt keine Arbeit bei uns in Kirgisistan!“.

Plötzlich Hooligans

Wie schnell die Lage eskalieren kann, zeigt sich, als plötzlich Hooligans in Przemyśl auftauchen. Zuerst posten sie beim Online-Nachrichtendienst Telegram ein Foto, mehr als 100 schwarz gekleidete Männer, selbst ernannte Beschützer ihrer Heimat. Dann teilen sie sich in Trupps von etwa fünf Männern auf und laufen nach eigener Angabe „Patrouille“, machen also Jagd auf nicht-weiße Ausländer.

Zusammen mit einem polnischen Journalisten frage ich so einen Trupp, was er in der Stadt mache. Die Männer – kurze Haare, wetterfeste Jacken, Turnschuhe – verweisen auf Berichte in sozialen Netzwerken, wonach Migranten eine polnische Frau mit einem Messer attackiert und Läden ausgeraubt hätten. Sie würden jetzt „für Ordnung sorgen“.

Es ist eine beängstigende Atmosphäre in der Stadt, viele Studierende aus Indien halten sich dort auf, die meisten von ihnen haben an der Technischen Universität im ostukrainischen Poltawa studiert, wie sie erzählen. Sie wissen nicht, dass sie in Gefahr sind, zusammen mit dem Journalisten-Kollegen warne ich eine Gruppe von drei jungen Indern vor den Hooligans. Einer von ihnen trägt bei Minusgraden nur einen dünnen Pullover und eine Decke über seine Schultern. Alle drei wirken ausgebrannt von der langen Flucht. Sie sagen, dass sie ein Hotel suchen würden, wollen nicht zurück zum Bahnhof, der sicher, aber überfüllt ist.

Ein kleiner Supermarkt hat im Zentrum von Przemyśl noch geöffnet, irgendwann sammeln sich davor etwa 20 Hooligans, sie grölen Parolen, grüßen sich per Gettofaust, feixen gut gelaunt. Sie haben die Kontrolle übernommen. Eine Frage an die Verkäuferin im Supermarkt: „Fühlen Sie sich bedroht von den vielen Männern da draußen?“ Ihre Antwort: „Nein, jetzt fühle ich mich sicher. Sie beschützen mich vor den Migranten.“

Am nächsten Tag schreiben polnische Medien, dass die Meldungen über die Gewalttaten Geflüchteter bei Telegram erfunden waren. Es gebe ernsthafte Indizien, dass sie von einer russischen Quelle gezielt gestreut worden seien. Weiter berichten sie, dass die Hooligans drei junge Inder zusammengeschlagen hätten, einer von ihnen sei krankenhausreif geprügelt worden. Ich weiß nicht, ob es sich um die drei indischen Männer handelt, die zu warnen wir versucht hatten.

Es dauert dann noch einen Tag, bis die Polizei einschreitet und die Hooligans aus dem Straßenbild von Przemyśl verschwinden. Der Nachtwächter reagiert, wenn auch seltsam zeitverzögert.

Ohnmächtige Staaten, beherzte private Helfer

Vermutlich hat es noch nie einen Krieg in Europa gegeben, dessen Bewältigung so sehr von privater Initiative geprägt ist, von ohnmächtigen Staaten und beherzten Helferinnen und Helfern. Selbst bei den Sanktionen gegen Russland scheint es bisweilen, als sei der Abzug der großen Konzerne, von Apple etwa oder Ikea, fast bedeutsamer als die offiziellen staatlichen Strafmaßnahmen, zumindest für die Menschen greifbarer und deshalb durchdringender. Gleichzeitig werden selbst europäische Waffen manchmal mit Hilfe privater Unternehmer in die Ukraine gebracht. Der Angriff Russlands auf die Ukraine beschleunigt die Dominanz des privaten Sektors über den staatlichen.

Am Grenzübergang Medyka, eine Viertelstunde von Przemyśl entfernt, sind Solidarität und Hilfsbereitschaft groß. Vielen Geflüchteten schießen Tränen der Erleichterung in die Augen, wenn sie auf polnischer Seite die Grenze passieren, die meisten waren tagelang unterwegs. In die Gegenrichtung, also hinein in die Ukraine, fahren immer wieder einzelne Männer, vor allem ausgewanderte Ukrainer, die nun freiwillig zurückgehen und in den Krieg ziehen.

Irgendwann taucht Paul Ziemiak in Medyka auf, bis vor kurzem CDU-Generalsekretär, geboren im polnischen Stettin. Er erzählt, dass er gleich zwei Familien in seinem Bulli nach Hamburg fährt, ist also auf eigene Initiative gekommen. Ziemiak sagt: „Bei all den Krisen, die wir in Europa haben, sind wir uns einig: Es gilt die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren.“ Er freut sich sichtbar, dass zumindest irgendwer von den Journalisten mitbekommen hat, was er hier macht. Ziemiak ist lässig genug, nicht selbst jemandem Bescheid zu geben, aber doch Politiker genug, um zu wollen, dass seine gute Tat bemerkt wird.

In seinem Bulli ist bald jeder Platz belegt. Ziemiak fährt los, es geht nach Hamburg. Wenn selbst der Mann, der gerade noch CDU-Generalsekretär war, privat hilft, scheint der Vorrang der Selbstinitiative vor staatlicher Organisation besiegelt.

„Ruskie“ ist durchgestrichen

Nicht alle privaten Initiativen wollen Frieden. In einem Restaurant in Przemyśl ist das beliebte Gericht „Pierogi ruskie“ umbenannt worden, das Wort „ruskie“ ist durchgestrichen, nun sind die Teigtaschen ukrainisch. Eine angekommene Familie aus der Ukraine setzt sich dort an den Tisch und fängt laut an zu diskutieren. „Es geht doch nicht darum, alles Russische zu verteufeln!“, sagt eine ältere Frau wütend. Ihre Enkelin antwortet ihr auf Ukrainisch: „Sie haben uns doch angegriffen!“

Przemyśl bleibt in diesen Tagen laut und hektisch, immer rasen Krankenwagen mit Blaulicht und lautem Einsatzhorn durch die Nacht. Der kleine Bahnhof der Stadt ist dauerhaft überfüllt. Es ist nicht auszudenken, was hier los wäre, wenn nicht Aktivistinnen kostenlos Burritos und Wasser verteilen würden, Kinderwagen und warme Mäntel.

In einer eigentlich aufgegebenen Shoppingmall liegen die Menschen verteilt auf Ladenflächen, in denen früher Parfüm und Damentaschen verkauft wurden und nun Zettel mit „Frankfurt“ oder „Prag“ kleben, damit Freiwillige wissen, wer wohin mitwill. Hier ist die Abbildung eines solidarischen Kleineuropas entstanden, die den aktuellen Krieg ideell überdauern könnte.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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