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Überwachung | Verfassungsgericht: Kein hinreichender Schutz für Rechtsstaat und Demokratie


Link [2022-05-21 22:33:12]



Hat das Bundesverfassungsgericht Bayerns Aushöhlung der Grundrechte in die Schranken gewiesen oder ihr Tür und Tor geöffnet?

Der Verfassungsschutz sei nichts weniger als der „Garant für die Bewahrung unserer Freiheit“. Mit diesen martialischen Worten begründete 2016 der CSU-Politiker Hans Reichhart im bayerischen Landtag das bundesweit schärfste Verfassungsschutzgesetz. Mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. April ist nun klar: Das Gesetz selbst verstößt in weiten Teilen gegen die Freiheit. 14 Artikel wurden als verfassungswidrig eingestuft: Online-Durchsuchung, Verwanzung von Wohnungen, V-Leute und einiges mehr dürfen vorerst nicht mehr so eingesetzt werden wie bisher.

Zwar gilt das Urteil nur für den bayerischen Verfassungsschutz, aber Karlsruhe machte deutlich, dass der Verfassungsschutz prinzipiell als Instrument der „Vorfeldaufklärung“ zwar nicht an die gleichen Schwellen gebunden sei wie die Polizei, die grundsätzlich nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr einschreiten darf, aber es verpflichtet die Behörden auf das Bestehen eines „hinreichenden verfassungsschutzspezifischen Aufklärungsbedarfs“. Entscheidend ist also die Verhältnismäßigkeit: Je gefährlicher die beobachtete Person oder Gruppierung, desto umfangreichere geheimdienstliche Mittel dürfen eingesetzt werden. Die Beobachtung von legal und friedlich agierenden Kleinstgruppen mittels V-Leuten dürfte nun kaum mehr begründbar sein. Wobei es Schlupflöcher gibt.

Das Gericht betont auch die Trennung von Polizei und Verfassungsschutz, die gerade durch Datenübermittlungen nicht aufgeweicht werden dürfe. Das könnte zumindest angedeuteten Plänen einiger Innenminister vorerst einen Riegel vorschieben.

Der Weg zur Stasi 2.0

Dieses Urteil ist nicht das erste in den vergangenen Jahren, welches Befugnisse der Sicherheitsbehörden zurechtgestutzt hat. Bei herausragenden Urteilen zum neuen BKA-Gesetz und zu den Befugnissen des Bundesnachrichtendienstes (BND) verpflichtete das Gericht den Gesetzgeber nicht nur, die Voraussetzungen für weitreichende Eingriffe der Behörden enger zu ziehen, sondern auch auf zahlreiche flankierende Maßnahmen zur Transparenz, Prüf- und Löschpflichten sowie Kontrolle durch Parlamente, Datenschutzbeauftragte und im Falle des BND durch einen aufgrund des Urteils geschaffenen „Unabhängigen Kontrollrat“.

Vor allem in den vergangenen 20 Jahren war es immer wieder das Bundesverfassungsgericht, das die Sicherheitsbehörden in die Schranken gewiesen hat. Spätestens seit dem 11. September 2001 und den in der Folge massiv gestiegenen Kompetenzen und Budgets der Sicherheitsbehörden reihte sich ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das diese neuen Befugnisse begrenzte, an das nächste: Großer Lauschangriff, Rasterfahndung, Online-Durchsuchung, Anti-Terror-Datei, Vorratsdatenspeicherung.

Aufgrund der Gesetzesflut und der teilweise sehr weitgehenden Regelungen fühlte sich das Gericht sogar herausgefordert klarzustellen, dass das Grundgesetz es gebiete, Terrorismus nicht als Krieg oder Ausnahmezustand aufzufassen, der den Gesetzgeber von der Beachtung rechtsstaatlicher Anforderungen entbinde. Insgesamt entstand nicht zuletzt wegen dieser vielen Urteile der Eindruck, dass insbesondere unter den Innenministern Otto Schily (SPD) und Wolfgang Schäuble (CDU) die Bundesrepublik mehr und mehr in einen Sicherheitsstaat verwandelt werden sollte.

Das Schlagwort von der „Stasi 2.0“ machte die Runde und das Bundesverfassungsgericht erschien als Bollwerk der Grundrechte gegen einen übergriffigen Staat. Neben den eben skizzierten durchaus bemerkenswerten Gewinnen an Kontrolle der Sicherheitsbehörden haben die Gerichtsurteile auch die Bevölkerung für die Bedeutung der Grundrechte sowie die Begrenzung staatlicher Macht sensibilisiert.

Doch es wäre ein Irrglaube, davon auszugehen, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sorge hinreichend für Rechtsstaat und Demokratie. Nur in den seltensten Fällen verwirft das Gericht eine Regelung vollständig. Vielmehr folgen nach Urteilen des Gerichts, bei denen etwa die Ausweitung des Sicherheitsapparats zunächst gestoppt wird, schon bald darauf neue Gesetze der jeweiligen Landes- oder Bundesregierung – mit ein paar Präzisierungen, Begrenzungen und den eingeforderten Kontrollmöglichkeiten. Der Gesetzgeber hat dann „seine Hausaufgaben gemacht“, wie es häufig heißt. Dabei schreibt er nicht selten ab und übernimmt Formulierungen aus den jeweiligen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Genau hier zeigt sich mit voller Wucht die Ambivalenz des Rechtsstaats: Das Gericht fungiert als eine Art nachgelagertes Sachverständigengremium, das den Parlamenten aufzeigt, wie sie die gewünschten Befugnisse rechtssicher beschließen können.

Mancher mag dieses Wechselspiel von Gesetzgeber und höchstem Gericht als Win-Win-Situation deuten: Datenschützer*innen und Bürgerrechtler*innen können sich an den Verbesserungen, welche sie durch Verfassungsbeschwerden erreicht haben, genauso erfreuen wie über eine Stärkung der Bedeutung der Grundrechte im öffentlichen Diskurs. Die Innenminister hingegen erhalten die gewünschten Befugnisse nach einer Extrarunde doch und das Bundesverfassungsgericht stärkt seinen Ruf als „Hüterin der Verfassung“. Aber ist es das?

In den meisten Fällen folgt das Zusammenspiel von Legislative und Judikative einem Muster: Der Gesetzgeber würde gerne drei Schritte nach vorne gehen, das Bundesverfassungsgericht erlaubt nur einen, gibt dabei aber eine konkrete Hilfestellung, wie durch Nachbesserungen im Gesetz zumindest noch ein zweiter Schritt gegangen werden kann.

Die politische Debatte um die Sinnhaftigkeit eines Gesetzes ist spätestens durch Erlass eines neuen Gesetzes, das „die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umsetzt“, tot. Seine überragende Stellung und das überaus hohe Ansehen, das das Bundesverfassungsgericht in der Öffentlichkeit genießt, immunisieren ein verfassungskonformes Sicherheitsgesetz gegen Kritik. Gegen die „Konsensmaschine Karlsruhe“ kommt man schwer an. Das haben auch Innenminister und Polizeigewerkschaften gemerkt, die sich mittlerweile nach solchen Urteilen erfreut zeigen, jetzt „klare Vorgaben“ erhalten zu haben für zukünftige Gesetze. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) begrüßte dann auch das jüngste Urteil und nannte es eine Stärkung des Verfassungsschutzes: „Das Bundesverfassungsgericht hat die Bedeutung unserer Verfassungsschutzbehörden für den Schutz unserer freiheitlichen Demokratie deutlich betont und die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht grundsätzlich beanstandet.“

In Zeiten von Big Data

Das Bundesverfassungsgericht zeigt gemäß seiner Funktion nur die absolute Untergrenze auf, das verfassungsrechtlich unverzichtbare Minimum, an das sich der Gesetzgeber mindestens halten muss. Das kann keine anspruchsvolle politische Abwägung von Sicherheit und Freiheit, von Grundrechten und notwendigen Eingriffen in diese ersetzen. Auch wenn sich manche Urteile des Bundesverfassungsgerichts so lesen und teilweise kritisiert wird, es maße sich eine solche Rolle an: Das Bundesverfassungsgericht ist kein Ersatzgesetzgeber. So wichtig seine Rolle in der Vergangenheit beispielsweise durch das Urteil zur Etablierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung war und in naher Zukunft noch beispielsweise für die Begrenzung der Nutzung von Big-Data-Techniken bei der Polizeiarbeit sein wird – es wäre politisch falsch, sich allein auf Karlsruhe zu verlassen.

In Zeiten, in denen ein durchsuchtes Smartphone viel mehr über uns verrät, als es früher eine durchsuchte Wohnung jemals könnte, mittels künstlicher Intelligenz und riesiger Datensammlungen inzwischen die ersten Schritte Richtung Minority Report gemacht werden und Staaten immer stärker auf freiwillig an Internetkonzerne abgegebene Daten zugreifen, reicht es nicht aus, sich auf das verfassungsrechtlich unverzichtbare Minimum zurückzuziehen. Sich dafür einzusetzen, dass Freiheit und Privatsphäre auch im 21. Jahrhundert nicht vollends unter die Räder geraten, ist primär eine politische Angelegenheit, bevor es eine rechtliche ist. Es geht um gesellschaftliche Mehrheiten für eine Stärkung der Bürgerrechte. Dabei sollte man sich nicht hinter acht Richterinnen und Richtern in roten Roben verstecken.

Sebastian Friedrich ist Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde gegen die Polizei- und Verfassungsschutzgesetze in Hamburg

André Paschke ist Jurist aus Hamburg

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