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Transformation | Die Linke muss lernen, bürgerlich zu denken


Link [2022-05-26 08:56:24]



Wenn die Linke wieder auf die Füße kommen will, sollte sie sich für eine Republik der sozialen Demokratien einsetzen. Diese lässt sich aber nur bürgerlich denken

Die Linke läuft auf Autopilot. Sie kann die Krisen unserer Zeit benennen, Antworten hat sie aber nicht. Zumindest keine, die breite Schichten mitnehmen – Voraussetzung für nachhaltigen Wandel. Im Gegenteil: Obwohl die Entfremdung der Linken von den unteren Klassen seit Jahren diskutiert wird, zeigen sich kaum Konsequenzen. Allenfalls bekommt man ein Mehr von dem serviert, was in die Sackgasse geführt hat.

Sicher, die Linke beteuert universale Werte. Tatsächlich aber schlafwandelt sie in den Partikularismus. Die Praxen der Identitätspolitik – gefeiert vor allem von privilegierten Milieus – sind nur ein Ausdruck davon. Die Ignoranz der Linken gegenüber der Realität hat eine lange Vorgeschichte. In sie eingebogen ist man mit der Abkehr vom Republikanismus. Nimmt man diesen aber wieder mit ins Boot, lösen sich einige vermeintliche Widersprüche, die zu Glaubenssätzen geronnen sind, in Wohlgefallen auf.

Seit 150 Jahren grenzt sich die sozialistische Linke von allem Bürgerlichen ab. Was damit eigentlich gemeint sein soll, außer einem diffusen Bekenntnis zur revolutionären Gesinnung, weiß schon lange keiner mehr. Immerhin ist der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts, der die liberalen Freiheiten eher unterspült als verteidigt, weit davon entfernt, noch irgendwie bürgerlich zu sein. Und dass die Linke, die zu einer bildungsbürgerlichen Veranstaltung geraten ist, das Proletariat repräsentiert, lässt sich auch nicht gerade sagen.

Abgrenzung von der Bürgerlichkeit ist durch den Wandel der Linken zu einer toten Chiffre geworden. Sie ist antibürgerlich, ohne proletarisch zu sein; proproletarisch und doch zutiefst bürgerlich. Doch nicht erst neuerdings, sondern bereits im historischen Vorlauf hat sich die Linke mit jener wohlfeilen Freund-Feind-Verortung ein Bein gestellt. Der vermeintliche Dualismus zwischen bürgerlicher und proletarischer Welt, er war von Beginn an ein identitärer Verschluss, der die politische Fantasie lähmte.

Denn mit dem seit der Kommune kolportierten Generalverdacht gegen die bürgerliche Republik, bloß politische Form zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen zu sein, blieb das Verhältnis der Linken zur Machbarkeit der Geschichte ein entfremdetes. Der Sozialismus, der in monarchistischen Zeiten aufkam, verpasste so die Chance, sich weiterzuentwickeln. Vom Schwindel der „Volksrepubliken“ mal abgesehen, blieb eine wirkliche Aneignung der Republik durch die Arbeiterbewegung aus – und damit eine sozialistische Perspektive der Demokratisierung.

So versandete man entweder in den gegebenen Institutionen oder zielte auf einen radikalen Ordnungsbruch, der die Überwindung des Kapitalismus magisch regelt. Bis heute geht der Linken eine politische Dialektik ab, welche die bürgerliche Republik aufnimmt und über ihre imaginierten Grenzen hinaustreibt. Eine sozialistische Bürgerlichkeit würde einen Ausbruch aus dieser konzeptionellen Sackgasse erlauben. Dafür hätte die Linke aber den Republikanismus wiederzuentdecken. Sie müsste sozialrepublikanisch denken.

Der falsche Mythos von 1871

Tatsächlich gingen sozialistische und liberale Ideen einst Hand in Hand, vom Republikanismus umfasst. Erst mit der Kommune kam es ab 1871 zum Bruch mit dem republikanischen Erbe der Arbeiterbewegung, in der man sich bis dato als „Bürger“ grüßte. Marxisten wie Anarchisten sahen in ihr den Prototyp einer proletarischen Revolution, niedergeschlagen durch die bürgerliche Reaktion. Dabei war die auf Wahlen basierende Kommune vor allem ein republikanisches Projekt – mit sozialistischem Impetus.

Zerschlagen wurde also vielmehr die Perspektive eines sozialen Republikanismus – mit dem einsetzenden Revolutionsmythos gleich doppelt. Auf den antiliberalen Pfad gerutscht, laboriert die Linke bis heute an einem Missverständnis. Repräsentative Demokratie als Ausdruck eines bürgerlichen Liberalismus abzulehnen, ist nicht Fortschritt, sondern Rückschritt. Im Fall des autoritären Sozialismus mag das klar sein. Aber es gilt auch für dessen Gegenmodell, das in der heutigen Linken Raum gegriffen hat: die Basisdemokratie.

Alles müsse anders, heißt es da. Horizontal statt vertikal. Die eigentliche Herausforderung wird in dieser eindimensionalen Gegenüberstellung jedoch verkannt: dass die Demokratie von der politischen Sphäre auf die sozialen Sphären zu übertragen ist, die ja noch immer feudal funktionieren. Mit basisdemokratischen Ansätzen, die vielen vorschweben, ist das aber nicht zu machen. Am Ende ist eine horizontale Ordnung sogar exkludierender – und durch die Basis selbst noch weniger zu steuern. Basisdemokratie muss man sich eben leisten können. Zum einen. Zum anderen lassen entsprechende Strukturen keine funktionale Differenzierung zu, die eine moderne, komplexe Gesellschaft verlangt. Zielführender wäre es, die politische Bürgerschaft um soziale Bürgerschaften zu ergänzen: die Vervielfältigung von repräsentativer Demokratie. Wenn die Linke, aber auch die Demokratie ihren Kinderschuhen entwachsen will, müssten sie sozusagen diagonal denken.

Was also ist das Modell des sozialen Fortschritts? Traditionell kreist diese Debatte um die Pole von Reform und Revolution: eine Gegenüberstellung, die von Anfang an eine trügerische Orientierung war. Denn sie basierte radikalerseits auf der schematischen Vorstellung, dass auf die bürgerliche Revolution notwendigerweise eine zweite, eine soziale Revolution folgen würde, die die liberale Gesellschaftsformation wieder aufhebt. Der Übergang zur neuen Gesellschaft war so nur als radikaler Ordnungsbruch denkbar.

Ironischerweise wurde damit dem sozialistischen Transformationsprozess selbst der Boden entzogen. Denn mit empirischer Verlässlichkeit führten revolutionäre Bewegungen – wenn sie nicht autoritär entgleisten – immer wieder zu reaktionären Backlashs, die sich auch aus der Verunsicherung großer Teile der Bevölkerung speisten. Die Formierung einer neuen Gesellschaft aus einem relativ inklusiven Kapitalismus heraus erfordert eben ein weit höheres Maß an Ordnungssicherheit als die Überwindung der superexklusiven Feudalbeziehungen.

Die Erweiterung der politischen Demokratie um soziale Demokratien umgeht das. Mit Verfassungsmäßigkeiten in den sozialen Sphären würde die Transformation am Bestehenden anknüpfen, ohne bloß Reformismus zu sein. Ansätze für solch eine Konstitutionalisierung des Sozialen bestehen in den kollektiven Rechten und Verfassungselementen, wie wir sie im Bereich der Arbeit kennen. Sie ließen sich nicht nur zur Wirtschaftsdemokratie ausbauen, sondern auch auf die Bereiche des Wohnens, des Verbrauchs und der Vorsorge übertragen. So eine fortgesetzte Wiederholung des republikanischen Gründungsmoments stünde für eine soziale Transformation der Politik. Denkt man sich Sozialismus als Verfassungsfrage, könnten Repräsentationen des Sozialen in das Gehäuse der Republik einströmen. Solche Mikrorevolutionen könnten für eine sukzessive Verdichtung des Systems hin zu einer Republik der sozialen Demokratien sorgen. Es wäre die Entfeudalisierung der sozialen Sphären. Dafür müsste die Linke gerade im Sozialen aber bürgerlich denken.

Die Gegenüberstellung von politischer Partei und sozialer Bewegung ist überholt. Gewiss neigen Parteien zu einer Entkopplung vom sozialen Alltag. Dies liegt aber vor allem daran, dass die repräsentative Demokratie auf die politische Sphäre beschränkt ist, der es an Instrumenten dafür mangelt, die sozialen Probleme adäquat zu bearbeiten. Die Feudalhaftigkeit des Sozialen wird so bloß verwaltet. Und doch kann die Antwort darauf nicht die Ablehnung der Institutionen der politischen Demokratie sein.

Denn die Sphäre des Politischen wird mit der Errichtung von sozialen Demokratien (Wirtschafts-, Liegenschafts-, Konsum- und Wohlfahrtsdemokratie) nicht etwa überflüssig. Vielmehr würden derartige Komplementärsysteme eine funktionale Differenzierung erlauben, bei der sich die politische Demokratie auf ihre eigentliche Bestimmung konzentrieren könnte: Vermittler zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zu sein. Vor allem aber bedarf es auch parlamentarischer Kräfte, die diesen Prozess politisch fördern.

Verfassungsbewegung, überall

Zwar wird die Erschließung der sozialen Sphären für die Demokratie nicht über die allgemeine Politik, also die konstituierte Macht, sondern nur durch konstituierende (Gegen-)Mächte zu installieren sein, die demokratische Vollzugsorgane im Sozialen herausbilden. Dennoch kann die Konstitutionalisierung des Sozialen nur von zwei Seiten greifen, nämlich dann, wenn sie auch legislativ von der Politik erleichtert wird. Es ginge also um ein Abtragen und Aufbauen, wobei die Träger des Letzteren nur soziale Interessenorganisationen sein können. Wie kollektives Arbeitsrecht und Betriebsverfassungsgesetz den Arbeitergewerkschaften zu danken sind, könnten Mietergewerkschaften dem kollektiven Mietrecht und einem Häuserverfassungsgesetz den Weg ebnen. Ähnliches gilt für Verbraucher und Vorsorgende.

Entsprechende Sozialorganisationen könnten sich dann eine politische Repräsentation geben, die sich die Institutionen der Politik zunutze macht. Es wäre Aufgabe einer solchen Bewegung, das Bestehende transformativ zu wenden, sie müsste also konstruktiv denken.

Mit der jüngsten identitätspolitischen Welle wurde zuletzt auch die Klassenpolitik vermehrt diskutiert. Den einen gilt sie als Gegenentwurf zu einer Politkultur, die mit den unteren Klassen über Kreuz liege. Den anderen als etwas, das mit Identitätspolitik zu verbinden sei – auch sie sei ja identitätspolitisch. Tatsächlich schlug der Klassenkampf marxistischer Prägung mit seiner proletarischen Subjektbezogenheit ja quasi in eine standpunkttheoretische Kerbe – das Kernmerkmal von Identitätspolitik.

Und doch ist es die falsche Antwort auf die falsche Frage. Bestimmte Subjekte qua Identität zum Träger politischer Wahrheiten oder historischer Missionen zu machen, muss zwangsläufig regressiv sein. Derlei Essentialisierung steht eben im Konflikt mit den Prinzipien der Aufklärung. Es ist ein epistemischer Modus, der irrationale Affekte über die argumentative Deliberation stellt. Ob Antirassismus, Feminismus oder Klassenpolitik – identitätspolitisch gefasst, bergen all diese Politiken immanente Probleme, die ihre hehren Ziele unterlaufen.

In der linken Verhaltenspolitik zeigen sich die unbeabsichtigten Folgen der Identitätspolitik im Brennglas. Sie soll subalterne Gruppen ermächtigen und zu universeller Freiheit führen – spiegelt aber doch nur wider, was die bildungsbürgerlich geprägte Linke als richtige Wahrnehmung subalterner Interessen deutet. Oder, standpunkttheoretisch gesagt: Die Interpretation des politisch Korrekten entspricht ihrem privilegierten Habitus und umschifft die eigenen blinden Flecken. Es beißt sich so der Intersektionalismus in den Schwanz.

Man will den Subalternen eine Stimme geben – hört aber nur die Segmente der Sektionen, die zum eigenen Standpunkt passen. Dass sich das Gros der Frauen und Migranten, vor allem der Proleten, darin nicht wiederfindet, macht die Politisierung des kulturellen Alltags zu einem partikularistischen, ja paternalistischen Projekt. Um diesen Bias zu vermeiden, braucht es eine universalistische Gleichstellungspolitik jenseits essentialisierender Schubladen. Statt das Zwischenmenschliche überzupolitisieren, müsste die Linke dafür institutionell denken lernen – an die „res publica“, die öffentlichen Dinge.

Holger Marcks und Felix Zimmermann sind die Autoren von Zurück nach vorn. Ein sozialrepublikanisches Panorama (Im Netz: soziale-republik.org)

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