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Tierwohlkennzeichnung | Lass die Sau raus, Özdemir


Link [2022-06-27 23:01:46]



Der Grüne Cem Özdemir will, dass auf dem Etikett steht, wie es dem Schwein vor der Schlachtung gegangen ist. Stand es im Stall mit wenig Platz? Oder hatte es Auslauf? Doch Tierschützern geht sein Plan nicht weit genug

Auf dem Tor, das Clemens Stromayer aufschließt, steht „Achtung, Lebensgefahr! Frei laufender Eber!“. Dann fährt der Mann im roten Overall, mit einem hellbraunen Anglerhut auf dem Kopf, seinen Pick-up auf das Gelände, steigt aus und sagt: „Nee, keine Angst, das ist nur für die Schulkinder, damit die nicht über den Zaun klettern.“

Ein paar Meter läuft er über das riesige Feld, die Junisonne knallt vom Himmel herab, vereinzelt liegen Säue in der Gegend herum, die im Schatten der Bäume Schutz suchen. Ein 200-Kilo-Vieh rafft sich auf, kommt grunzend angelaufen und reibt seine Nase an Stromeyers Gummistiefeln, die ihm fast bis zu den Knien reichen. „Du hast hier ’ne echte Rarität vor dir“, sagt der 43-Jährige und lässt seinen Blick über den Acker schweifen. „So gut wie meinen Tieren geht es vielleicht noch 5.000 anderen Schweinen in Deutschland.“

Wegen Bauern wie ihm muss Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Bündis 90/Die Grünen) kein Tierwohllabel einführen. Aber Stromayers Hof in Potsdam ist eine Ausnahme in der Branche.

Anfang Juni hat Özdemir seinen fünfstufigen Vorschlag für eine „staatliche Tierwohlkennzeichnung“ vorgestellt. Wie viel Platz hat ein Schwein im Stall? Gibt es Auslauf nach draußen? „Wer Tiere nutzt, hat auch die Pflicht, sie gut zu halten“, sagte der Grüne auf der Pressekonferenz. Seine Vorgängerin im Amt, Julia Klöckner (CDU), war 2019 mit ihrem Tierwohllabel für Schweinefleisch gescheitert: Bauern sollten sich ein staatliches Gütesiegel auf die Verpackung kleben dürfen, wenn sie den Tieren freiwillig mehr Platz geben. Das Gesetz hing zwei Jahre im Bundestag fest, bevor es 2021 endgültig begraben wurde. „Absolut ungenügend“ sei der Entwurf, fand der Koalitionspartner SPD.

Wühlen will das Schwein

Özdemirs Plan ist ambitionierter: Schweinefleisch im Supermarkt soll verpflichtend in eine von fünf Stufen eingeordnet werden – abhängig davon, wie gut oder schlecht die Haltung war. In der untersten Stufe, die Özdemir plant („Stall“), hat das durchschnittliche Schwein gerade so viel Platz, wie es der gesetzliche Mindeststandard, die Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung, vorschreibt: 0,75 Quadratmeter pro Tier. In Stufe 2 („Stall + Platz“) gibt es 20 Prozent mehr Raum. Erst ab Stufe drei, in „Freiluftställen“, können Schweine Sonne, Wind und Regen beobachten.

Tierschützer kritisierten, dass Özdemirs Plan nicht weit genug gehe: Warum guckt er nur auf Schweine? Was ist mit Rindern und Geflügel? Und: Wieso soll nur frisches Schweinefleisch gekennzeichnet werden? Sobald es verarbeitet wurde, zu Wurst oder Schinken beispielsweise, wird der Verbraucher nichts mehr über die Haltungsbedingungen erfahren. Restaurants sind ebenfalls von der Kennzeichnungspflicht ausgenommen. Aus dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) heißt es, der vorgestellte Plan sei eben nur „ein erster Schritt“ und solle „zügig“ um all diese Punkte erweitert werden.

Die Umweltschutzorganisation Greenpeace ärgert sich, dass die untersten beiden Haltungsstufen, „Stall“ und „Stall + Platz“, überhaupt noch erlaubt sind: Bereits 2017 hatte die Organisation ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, welches zu einem klaren Ergebnis kam: unvereinbar mit dem Tierschutzgesetz. „Bei dieser Art der Haltung haben die Tiere extrem wenig Platz, keinen Freiluftkontakt und können nicht wühlen“, sagt Greenpeace-Landwirtschaftsexperte Martin Hofstetter.

„Wühlen“, das ist ein Drang, den Hausschweine haben, weil sie sich in der freien Natur von Wurzeln, Samen, Pilzen und Kleinlebewesen ernähren würden, die unter der Erde sind. Wenn sie diesem Trieb nicht nachgehen können, weil sie im Stall auf festem Beton stehen, kann das zu Verhaltensstörungen führen, wie etwa gegenseitigem Schwanzbeißen. Knapp 80 Prozent der Schweine in Deutschland müssen auf sogenannten Vollspaltenböden leben: Das ist Beton mit Rillen, durch die Kot und Urin fallen. Wühlen ist für sie nicht drin. Zumindest auf dem Etikett soll dann von 2023 an stehen, dass es dem Tier nicht so dolle ging.

Bei freilaufenden Schweinen haben Erreger leichtes Spiel

Anruf bei einem konventionellen Landwirt, dessen Schweine auf Vollspaltböden stehen, der das aber alles nicht so eng sieht. Georg Straller, 58, ist im Bundesvorstand der Initiative Freie Bauern, die sich auf die Fahne schreibt, besonders unabhängig zu sein. 1.200 Mastschweine hält Straller im bayerischen Ipflheim. Kein Auslauf, 0,85 Quadratmeter Platz für jedes Tier. „Das hört sich theoretisch wenig an“, sagt er, „aber die Schweine fühlen sich pudelwohl!“

In einem Dorf wie Ipflheim, sagt Straller, gebe es quasi keine Möglichkeit, den Tieren Auslauf zu ermöglichen. Da käme sofort das Landratsamt mit einer „Umweltverträglichkeitsprüfung“ um die Ecke und würde sagen: „Nö, die Gerüche könnten die angrenzenden Anwohner stören, lass die Viecher mal schön im Stall!“ – „Das kriegste nicht genehmigt“, meint Straller, „so einfach, wie der Herr Özdemir sich das vorstellt, ist es eben nicht.“ Außerdem würden draußen Wildschweine, Ratten und Mäuse lauern, die seine Tiere mit der Afrikanischen Schweinepest anstecken könnten. Und Vögel, die die Hautkrankheit Rotlauf übertragen. „Das Stallsystem wurde erfunden, um die Nutztiere von den Krankheiten in der Wildbahn fernzuhalten“, sagt Straller. In Osteuropa sei das anders, da würden die Schweine fröhlich in Hinterhöfen rumrennen – die Schweinepest habe leichtes Spiel.

Grafik: der Freitag, Quelle: Statista

Die krassesten Auswüchse der industriellen Schweinemast haben Tierschutzorganisationen wie PETAimmer wieder dokumentiert. Es gibt Videos, auf denen man sich das angucken kann: Gedrängel, blutende Schwänze, mit Kot verunreinigte und tote Tiere, die in der Ecke liegen.

Özdemir will das ändern, aber er bewegt sich in einem schwierigen Spannungsfeld: Während 92 Prozent der Deutschen laut dem „Ernährungsreport 2021“angeben, dass ihnen wichtig sei, wie das Tier vor der Schlachtung gelebt hat, sind sie kaum bereit, mehr dafür zu bezahlen. Als Lidl im Dezember 2021 die Preise für Fleisch um einen Euro pro Kilo erhöhte, korrigierte der Discounter diese Entscheidung bereits im Februar wieder, weil ihm dadurch ein „erheblicher Wettbewerbsnachteil“ entstanden sei.

13,90 Euro für ein Kotelett

„An der Ladentheke wird es häufig nicht gezahlt“, sagt auch Ophelia Nick, parlamentarische Staatssekretärin im BMEL, gegenüber dem Freitag. „So sind wir Menschen.“ Bei Stromayer ist das anders. Seine Kunden bestellen über den Onlineshop Fleisch von glücklichen Schweinen und sind bereit, 13,90 Euro für ein Kotelett zu zahlen.

Überhaupt die Finanzierung: Die hatte Özdemir auch bei der Vorstellung seiner Pläne noch nicht geregelt. Allen sei klar, dass Stallumbauten Geld kosten würden und der Staat den Bauern dabei unter die Arme greifen solle, hieß es da. Aber woher soll das Geld kommen? Im Bundeshaushalt ist dafür bisher nur eine Milliarde Euro vorgesehen, für die vier Jahre bis 2026. Ein Vorschlag wäre es, zusätzlich den Mehrwertsteuersatz für tierische Produkte von sieben auf neun Prozent anzuheben. Oder einen Aufschlag von 40 Cent pro Kilo Fleisch zu verlangen. Hier stellt sich aber der liberale Koalitionspartner quer. „Wer deutsches Fleisch zusätzlich verteuert, treibt die Verbraucher dazu, billigeres ausländisches Fleisch zu kaufen“, sagt der landwirtschaftspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Gero Hocker. Und macht damit auf ein Problem aufmerksam, an dem Özdemirs Vorschlag krankt: Nur deutsches Schweinefleisch soll gekennzeichnet werden. Georg Strallers Freie Bauern sehen darin eine „Diskriminierung der deutschen Bauern“. Außerdem sagt das geplante Tierwohllabel, anders als im Koalitionsvertrag versprochen, nichts darüber, unter welchen Bedingungen die Schweine transportiert und geschlachtet wurden.

Der Betrieb von Clemens Stromayer würde nach Özdemirs Plan in die vierte Haltungsstufe eingeordnet werden: „Auslauf/ Freiland“. Da müssen die Tiere mindestens acht Stunden am Tag im Freien verbracht haben. Im Vergleich zur Mastindustrie ist Stromayers „Sauenhain“ in Potsdam fast so was wie Wellness pur: ganzjährige Freilandhaltung, ohne Ställe, irre viel Platz. „Das sind ja ursprünglich Wildtiere“, sagt der Bauer und zeigt auf eine Sau, die sich in einer Matschpfütze suhlt, „die gehören nach draußen.“ Ein Eber, zehn Muttertiere und Dutzende Ferkel leben auf dem Gelände. Letztere bleiben hier, bis sie zwei Monate alt sind. Dann kommt der Nachwuchs rüber auf das größere Feld für Masttiere.

Für das Bio-Siegel ist der Platz nicht so wichtig

Stromayer steigt wieder in seinen Pick-up, fährt vorbei an einem knallroten Mohnbeet und schließlich durch ein Tor, auf dem wieder eine „Lebensgefahr!“-Warnung steht. Dahinter sind auf 15 Hektar seine 130 Mastschweine – mehr als 1.100 Quadratmeter für jedes Tier. Auf 150 bis 170 Kilo wird jedes von ihnen gemästet, dann geht’s zum Schlachter. „Klar“, sagt Stromayer, „das ist immer ein brutaler Akt.“ Manche Schweine würden wittern, dass der Mann mit der elektronischen Betäubungszange in der Hand ihnen nicht wohlgesinnt ist. Aber bis sie ans Messer geliefert werden, hatten sie ein schönes Leben im Potsdamer Sauenhain.

Der agrarpolitische Sprecher von Greenpeace, Martin Hofstetter, kritisiert Özdemirs Fünf-Stufen-Plan, weil nur die Mastperiode für die Etikettierung entscheidend ist. „Jetzt wäre es möglich, dass Schweine unter extrem schlechten Bedingungen ihre erste Lebensphase erleben und trotzdem später ihr Fleisch als Freilandschwein verkauft werden kann“, sagt er.

„Bio“ ist die fünfte und letzte Stufe bei dem Tierwohllabel, auf deren Einführung hatte der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) gepocht: Ständig an der freien Luft wie Stromeyers Tiere müssen die als „Bio“ gehaltenen Schweine nicht sein, aber dem durchschnittlichen Schwein stehen bei dieser Haltungsform mindestens 1,3 Quadratmeter Platz im Stall sowie ein Quadratmeter Außenfläche zur Verfügung. Außerdem müssen die Schweine Bio-Futtermittel zum Fressen bekommen haben – ohne Pestizide und gentechnisch veränderte Pflanzen.

Clemens Stromayer ist all das nicht genug, er gründet gerade eine eigene Erzeugergemeinschaft: „Deutsches Weideschwein“ soll die heißen und vom Bioinitiative e. V. kontrolliert werden. Mitmachen dürfen nur Bauern, die Stromayers „Sauenhain-Kriterien“ genügen: Freiland, mindestens 500 Quadratmeter pro Tier, abwechslungsreiches Futter. Das Ein-Prozent der Schweine hat es gut. Jetzt muss der Mensch nur noch bei den anderen 99 Prozent nachziehen.

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