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Subkultur | Pride Month: Likörchen und Butterkrem – das waren wir!


Link [2022-06-17 22:31:23]



Auch in Sachen Kulinarik gab es früher ein schwules Spiel mit den Klischees. Diese Zeiten sind vorbei. Warum das manchmal schade ist

Mitte der 1990er Jahre zog ich als junger Mann in eine schwule WG in der Stadt. Dort war ich überwältigt von den Mengen an Sekt, die hier am Wochenende und mitunter auch werktags konsumiert wurden. Im Kühlschrank unserer stuckverzierten Altbauküche wartete immer eine gut gekühlte Flasche auf den nächsten Besuch – und der kam am Wochenende wie das Amen in der benachbarten Pfarrkirche.

Als Kind vom Land hatte ich keine Vorstellung von dieser Art mondänen Lebens. Sekt kannte ich allenfalls als Getränk, mit dem ältere Damen einander auf runden Geburtstagen und zu Silvester zuprosteten. Plötzlich war ich umgeben von Männern, die sich gegenseitig „die Schwiegermutter“ oder „die Gräfin“ nannten und das Glas in ihrer Hand zu einem Symbol ihres Lebensentwurfs erhoben hatten. Frei nach dem Motto: „Wer Männer liebt und Einigkeit, der trinkt auch mal ’ne Kleinigkeit.“

Ich kann mich nicht erinnern, was genau wir tranken, vermutlich stammte es aus dem piefigen Edeka um die Ecke, war eher süß und günstig. Aber Sekt und Schnittchen, Herrentorte und Advocaat waren ein integraler Bestandteil der sogenannten schwulen Subkultur, denn Brause und Canapés, Likörchen und Butterkrem – das waren wir! Wenn die Welt nach wie vor darauf bestand, dass schwule Männer per definitionem verweichlicht und verweiblicht waren – bitte schön, dann aber auch richtig!

Vom Camp sind nur noch Reste vorhanden

Seitdem ist viel passiert. Noch immer erfahren wir mitunter heftige Diskriminierung im Alltag. Aber während es uns damals, ein Jahr nach der Abschaffung des Paragrafen 175, noch um Sichtbarkeit ging und darum, den Bürgerlichen die eigenen Klischees um die Ohren zu hauen, sind die Möglichkeiten, nach den eigenen Vorstellungen in ein erwachsenes Leben hineinzuwachsen, ungleich größer geworden. Auch wenn meine Einblicke in den Alltag junger schwuler Männer eher kursorisch sind – vom lustvollen Camp sind nur noch spärliche Reste vorhanden.

Das „Sub“ der Kultur hat sich – weniger durch die rechtliche Gleichstellung als vielmehr durch seine mediale Präsenz – sowohl etabliert als auch assimiliert. Der Wunsch, gesehen zu werden, unterscheidet sich heute vermutlich nur unwesentlich von dem der heterosexuellen Freundinnen und Freunde. Die politischen Strategien von damals haben ihre Zielrichtung verloren, Sekt und Schnittchen als Identifikationsmerkmale haben ausgedient.

Aber das Überdrehte hatte noch eine andere Aufgabe. In seinem Comic Zitronenröllchen, der ebenfalls 1995 veröffentlicht wurde, zeichnet Ralf König, der große Dokumentar des schwulen Alltags jener Jahre: fünf ältere Damen vor einer Kuchentheke. In ihren Gesprächen geht es um Schwarzwälderkirsch und Sahnesteif, um Dauerwellen und Perücken. Man braucht heute eine Weile, um zu verstehen, dass es Kerle im Fummel sind, die sich dort unterhalten. Erst als die bärtige Fachverkäuferin eine allzu schnippische Kundin auffordert, doch lieber zum Heterobäcker zu gehen, wird klar, dass sich hier die Unberührbaren über die Mehrheitswohlstandsgesellschaft lustig machen. Die Konditorei als Biotop ondulierter Damen, die auf altrosa Plüschsesselchen ihren geheimen Lüsten in Form von Flockensahne frönen, diente als Steilvorlage für diese scharfsichtige Persiflage. Denn das Spiel mit den Klischees funktioniert nun mal immer auch in die andere Richtung.

All das gibt es heute kaum noch, weder klassische Konditoreien noch die ätzende Parodie der Verhältnisse, von denen wir ein Teil geworden sind. Aber manchmal würde ich mir von beidem wieder etwas zurückwünschen. Prosit und Happy Pride Month!

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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