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Streaming | Mit weiteren Aufständen wurde gerechnet


Link [2022-06-17 22:31:23]



Die Disney+-Serie „Oussekine“ schildert packend den Fall eines 1986 in Paris von Polizisten getöteten Studenten

In den Radionachrichten ist von Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei die Rede. Es soll mehrere Verletzte gegeben haben. Das neue Hochschulgesetz lässt im Winter 1986 in Frankreich die Wogen hochgehen und treibt Studentinnen und Studenten auf die Straße.

Auch Malik Oussekine (Sayyid El Alami), ein 22-jähriger Franzose algerischer Abstammung, will an diesem Abend noch seine kleine Wohnung verlassen. Allerdings nicht um sich den Protesten anzuschließen, sondern um ein Jazzkonzert im Quartier Latin zu besuchen. Kurz bevor er das Haus verlässt, telefoniert er noch mit seiner Schwester und probiert vor dem Spiegel seine neue Krawatte. Er entscheidet sich gegen sie. Seine Vermieterin, der er beim Verlassen des Hauses begegnet, sieht dem freundlichen jungen Mann gerne nach, dass er mit der Monatszahlung im Rückstand ist. Als er nach dem Konzert noch eine Zigarette raucht, laufen ihm plötzlich Menschen entgegen. Sie haben Angst. Sie rufen ihm zu, er solle verschwinden. Malik zögert.

Eingebetteter Medieninhalt

Die Schlüsselszene von Oussekine (derzeit auf Disney+) ist erst in der letzten Episode der vierteiligen Miniserie zu sehen: Kurz bevor ein sich langsam schließendes Tor ins Schloss fällt, schiebt sich ein Knüppel aus Holz in den schmalen Spalt. Er gehört einem jener Polizisten, die Malik Oussekine in der Nacht zum 6. Dezember 1986 zu Tode prügelten. Ein anderer junger Mann hatte ihm – zu spät – die Tür zur Lobby seines Hauses geöffnet. Der Augenzeuge wurde ebenfalls verprügelt, doch abgesehen hatten es die Polizisten einzig auf Malik.

Die brutale Polizeigewalt wird vertuscht

Was hier minutiös geschildert reißerisch klingen mag, ist in Oussekine genau das Gegenteil. Denn die französische Miniserie (dringende Empfehlung: Originalfassung mit Untertitel) erzählt bis zu dem entscheidenden Moment, in dem sich die Tür nicht rechtzeitig schließt, die letzten Stunden Maliks zwar in hektischen, bruchstückhaften Rückblenden, konzentriert sich darüber hinaus aber ausschließlich auf die Auswirkungen seines Todes: auf die Verwerfungen innerhalb der Familie, die anschließende politische und juristische Auseinandersetzung – und zuletzt auf den Prozess im Gerichtssaal selbst. So kommt der erste Anruf bei der Mutter Aicha (Hiam Abbas), den die auf Malik wartende Schwester Sarah (Mouna Soualem) entgegennimmt, nicht von offizieller Seite, sondern von einem hasserfüllten Rassisten. Schnell versucht man im Innenministerium von Jacques Chiracs Mitte-rechts-Regierung, die brutale Polizeigewalt zu vertuschen („Die Linke wird das alles ausbeuten“). Nicht nur werden die Ermittlungen zu seinem Tod systematisch behindert, sondern aus Malik, der zum Christentum konvertieren wollte und eine Bibel in der Jackentasche trug, wird in Polizeipressemitteilungen ein angeblicher „libanesisch-christlicher Terrorist“. Sogar weitere Ausschreitungen werden einkalkuliert: „Sie vergessen, dass nach dem Mai 68 der Juni 68 kam“, wischt der leitende Beamte für Innere Sicherheit die Bedenken vom Tisch. „Je mehr Unruhen es gibt, desto mehr unterstützt das Volk die Polizei.“

Doch ebenso schnell entdeckt die Protestbewegung Malik als Märtyrer, weshalb sich auch der politisch inszenierte Kondolenzbesuch von François Mitterrand in der Wohnung der Oussekines nicht verhindern lässt. „Mein kleiner Bruder ist Pazifist. War Pazifist“, versucht der älteste Bruder Mohamed (Tewfik Jallab), als erfolgreicher Unternehmer auch Familienoberhaupt und treibende Kraft für den Prozess, im Hörsaal die aufgebrachte Menge zu beruhigen. Auch wenn Oussekine mitunter zur Überzeichnung tendiert, ringt die Serie stets um einen nüchternen Blick.

Geschrieben und inszeniert vom Fernsehregisseur Antoine Chevrollier, spannt Oussekine derart einen historischen und politischen Bogen vom Massaker von Paris 1961 während des Algerienkriegs – in einer Rückblende ist Malik neben seinem nie in Frankreich heimisch gewordenen Vater bei den Protesten zu sehen – über die Wiederwahl Mitterrands bis zum Aufstieg des rechtsextremen Front National.

Der Prozess gegen die Polizisten fand mehr als drei Jahre nach Malik Oussekines Tod statt. Die Staatsanwaltschaft beantragte die Höchststrafe von zwanzig Jahren „wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit Tötungsfolge ohne Tötungsvorsatz“. Das Urteil fiel anders aus.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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