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Steinmeier-Formel | Wie Frank-Walter Steinmeier zur unerwünschten Person in der Ukraine wurde


Link [2022-04-15 01:13:54]



Frank-Walter Steinmeier ist in Kiew kein gern gesehener Gast. Viele in Deutschland sind überrascht und empört. Dabei protestieren Nationalisten in der Ukraine schon länger gegen den deutschen Bundespräsidenten. Was sind die Gründe?

Die Ukraine hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zur unerwünschten Person erklärt. Wen das überrascht oder erzürnt, der sollte wissen, dass in Kiew schon 2019 Tausende gegen Steinmeier auf die Straße gingen. Für ukrainische Nationalisten ist er der meistgehasste deutsche Politiker. Grund ist die sogenannte „Steinmeier-Formel“. Ihre Befürwortung gilt in der Ukraine inzwischen beinahe als Hochverrat.

Hintergrund ist Steinmeiers Vorschlag zur Umsetzung des Minsker Abkommens von 2015. Das von den damals amtierenden Staatschefs aus Frankreich (François Hollande), Deutschland (Angela Merkel), der Ukraine (Petro Poroschenko) und Russland (Wladimir Putin) ausgehandelte Maßnahmenpaket sollte die von Separatisten gehaltenen Gebiete Luhansk und Donezk als autonome Regionen in den ukrainischen Staat zurückführen.

Die Ukraine bestand auf der Kapitulation der selbsternannten Volksrepubliken als erstem Schritt zur Umsetzung des Abkommens, während Russland zuerst Wahlen forderte. Der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier brachte daraufhin 2016 einen Vorschlag ins Spiel, der zur Auflösung der Pattsituation führen sollte. Er sah zunächst Wahlen in den Separatistengebieten unter Aufsicht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) vor. Falls die Wahlen fair ablliefen, sollte beiden Regionen ein Selbstverwaltungsstatus gewährt werden, daraufhin eine Entmilitarsierung des Gebietes eingeleitet und schließlich die ursprüngliche ukrainischen Ostgrenze wiederhergestellt werden.

Selenskyj brachte die Steinmeier-Formel erneut ins Spiel

Die ukrainische Regierung unter Staatspräsident Petro Poroschenko und Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk lehnte Steinemeiers Vorschlag ab. Erst der neu gewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj brachte Steinmeiers Vorschlag nach Gesprächen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel erneut ins Spiel. Er hatte im Wahlkampf eine Lösung des Konfliktes in der Ostukraine versprochen, stieß allerdings mit der „Steinmeier-Formel“ auf heftigen Widerstand in Parlament und Medien. Im Oktober 2016 organisierten rechtsextreme Nationalisten Massenproteste dagegen. Selenskyj scheiterte an Protesten, die den Keim eines neuen „Maidan“ in sich trugen. Gewaltsame Proteste in Kiew hätten in der Absetzung Selenskyjs enden können.

Das Minsker Abkommen orientierte sich an der Machtteilungsidee zwischen Protestanten und Katholiken im Westfälischen Frieden von 1648. Die Ukraine wäre zu einer Bundesrepublik mit Autonomiestatus seiner Regionen geworden. Das wollten die ukrainischen Nationalisten nicht, die an ungeteilter Souveränität festhielten. Ihr Argument, damit werde das Land zerstückelt und Russland ausgeliefert, erinnert an die nationalsozialistische Kritik am „Schandfrieden von Münster und Osnabrück“, dem sie eine Zerstückelung Deutschlands und Auslieferung an Frankreich vorwarfen.

Steinmeier hatte 2015 eine Forschungsinitiative zur Aktualität des Westfälischen Friedens gestartet. Die Friedensformel des Minsker Abkommens basiert indirekt darauf. Das Ziel einer neutralen, föderal verfassten Ukraine hätte der Geschichte und Konfliktsituation besser entsprochen als ein unitarischer Staat, zumal die überwiegende Mehrheit der im Osten und Süden lebenden Bevölkerung eine Westorientierung des Landes lange ablehnte.

Statt Frieden nun die Anklagebank

Der Ukraine-Krieg wird von regionalen Unterschieden sowie Kultur- und Sprachkonflikten bestimmt. Wie der Dreißigjährige Krieg begann er lokal und droht nun jedoch, sich zu einem Weltbrand zwischen dem Westen und dem Rest der Welt auszuweiten. Die Minsker Abkommen und die „Steinmeier-Formel“ sollten den Konflikt auflösen. Nun stehen die Befürworter der Friedensvereinbarungen als Kriegstreiber und personae non gratae am Pranger.

Bundeskanzler Scholz hatte noch am 19. Februar 2022, fünf Tage vor dem russischen Einmarsch, einen letzten Versuch unternommen, zwischen Moskau und Kiew zu vermitteln. Das Wall Street Journal berichtete: „Scholz sagte Selenskyj auf der Münchener Sicherheitskonferenz, die Ukraine solle auf ihre NATO-Bestrebungen verzichten und als Teil eines umfassenderen europäischen Sicherheitspakts zwischen dem Westen und Russland ihre Neutralität erklären. Der Pakt würde von Putin und Biden unterzeichnet werden, die gemeinsam die Sicherheit der Ukraine garantieren würden. Selenskyj antwortete, man könne Putin nicht zutrauen, ein solches Abkommen einzuhalten, und dass die meisten Ukrainer der NATO beitreten wollten. Seine Antwort ließ deutsche Beamte mit der Sorge zurück, dass die Chancen auf Frieden schwinden“.

Trotz aller Versuche, eine Friedenslösung zu finden, sehen sich nun diejenigen, die sich am meisten für den Frieden einsetzten auf der Anklagebank. Die künftige Geschichtsschreibung dürfte diese Fehlwahrwahrnehmung spätestens dann korrigieren, wenn die Ukraine nach einem zu erwartenden verlustreichen Teilsieg nicht weiter als troublemaker für Russland auftritt, sondern Westeuropa in zwei Teile spaltet. Sie wird dies absehbar zusammen mit weiteren postsowjetischen und osteuropäischen Staaten tun, deren Neo-Nationalismus schon heute einer post-nationalen Europäischen Union Paroli bieten.

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