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Stadt der Toten | Im Tal des Friedens: Der älteste islamische Friedhof der Welt


Link [2022-06-27 23:01:46]



Wadi as-Salam bei Nadschaf ist der größte islamische Friedhof der Welt. Ein Grab an diesem Ort muss man sich leisten können

Quälenden Schrittes schleppt sich Saleha langsam vorwärts. Die schwarze Abaya, das traditionelle lange Überkleid, das sie nur außerhalb ihres Hauses trägt, schleift über den Boden. Sie blickt in den Himmel und ruft laut klagend: „Warum lässt du mich allein zurück? Warum bist du gegangen, Fatima?“ Als der einfache Holzsarg an ihr vorbeigetragen wird, berührt sie ihn und fragt wieder: „Warum?“ Die Trauernde klagt über den Verlust ihrer jüngeren Schwester Fatima, die mit 56 Jahren zwei Schwestern und fünf Brüder zurücklässt. Sie lebte bis zu ihrem Tod mit ihrem Mann Tahseen in einem Backsteinhaus in Baquba, einer Stadt gut 50 Kilometer nordöstlich von Bagdad. Ein erst in spätem Stadium erkannter Krebs ließ sie innerhalb von nur drei Monaten sterben.

Tränen der Verzweiflung

Nach drei rituellen Waschungen wurde Fatimas Körper in das traditionelle weiße Leichentuch, den „Kafan“, gehüllt. So liegt der Leichnam auf dem Boden und schwebt nach muslimischem Glauben in einem Raum zwischen Erde und Jenseits. Um ihn herum haben sich Frauen versammelt, die Abstand halten, aber durch Trauer vereint sind. Sie stehen auf dem Friedhof der Stadt Nadschaf südlich der irakischen Hauptstadt. Ein heiliger Ort, an dem sich die Rituale um Tod und Bestattung seit anderthalb Jahrtausenden kaum verändert haben.

Enkel, Töchter, Schwestern, Brüder und Freunde halten schweigend Totenwache inmitten uralter, alter und neuerer Gräber, die zwischen Hügeln aus rotem Sand und Betoneinfassungen liegen. Vom Wind aufgewirbelter Staub fliegt durch die Luft, als die verschleierten Frauen ihre Oberkörper ruckartig vor- und zurückbewegen, um ihrem Kummer Ausdruck zu geben. „Allah, warum hast du sie so früh gehen lassen?“, fragt und klagt Fatimas Schwester Sajida. Sie schlägt sich mit den Händen hart auf den Kopf und dreht die Handflächen nach oben. Die Augen hat sie fest auf Fatimas Leichnam gerichtet, während sechs Männer sich daran machen, ihn aufzunehmen und ins Grab zu heben.

Fatima wird niedergelegt, mit dem Kopf in Richtung der Kaaba, jenem quaderförmigen Gebäude in der Heiligen Moschee von Mekka, als „Haus Gottes“ das zentrale Heiligtum des Islam. Fatimas Mann Tahseen ist der Erste, der sich nähert. Seine Füße versinken im Sand, während er die Hand ausstreckt. Er greift nach dem Leichnam im Versuch, eine letzte körperliche Verbindung herzustellen. „Warum hast du mich allein gelassen, Fatima?“, wiederholt auch er. Nachdem er ihre Füße gestreichelt hat, bricht der Imam die Trauer. „Allah ist groß“, ruft er und beginnt das Gebet. Die in der Nähe versammelten Männer stimmen ein und rezitieren Verse aus dem Koran. Wie es die islamische Tradition vorschreibt, halten die Frauen mehr Abstand, während sie in Tränen und Verzweiflungsschreie ausbrechen.

Zentrum und Pilgerort des Shiitismus

Es ist ihr Trost, Fatima dort zu wissen, wo sie sein wollte, begraben im Lehm und in der Erde von Wadi as-Salam, dem „Tal des Friedens“ und größten islamischen Friedhof der Welt. Auf seiner Fläche von fünfzehn Quadratkilometern hätten etwa 1.300 Fußballfelder Platz. Die Begräbnisstätte liegt nahe der heiligen Stadt Nadschaf, dem Zentrum des Schiitismus, bekannt als „Vatikan der Schiiten“ und heiliger Pilgerort für jährlich 15 Millionen Gläubige, mindestens.

Die „Stadt der Toten“ besteht größtenteils aus mit Ziegelsteinen erbauten Gräbern und Mausoleen, die imponierende Kuppeln haben können, um den Reichtum und Status einer Familie anzuzeigen. Die nach oben abgerundeten Gräber, die häufig schon vor Jahrhunderten angelegt wurden, bleiben als Gedenkstätten neben den Ruhestätten erst kürzlich Verstorbener erhalten. Unter der Erde liegen Krypten, manche davon lange vergessen. Die engen Gänge zwischen den Grabreihen sind mit Blumenkränzen, Porträts, Postern und Fotos von Verstorbenen versehen. Jede Erinnerung kann eine Geschichte erzählen.

Auf dem stets von Neuem wachsenden Friedhof liegen zwischenzeitlich gut fünf Millionen Menschen begraben, darunter religiöse Gestalten wie die Propheten Hud und Saleh, einst berühmte Prediger, oder politische Honoratioren vergangener Epochen. Der Kreislauf von Leben und Tod erzwingt Jahr für Jahr eine Erweiterung. Die spirituelle Aura ist spürbar. „Schauen Sie sich gut um“, sagt Yasser, Fatimas Sohn. „Für schiitische Muslime ist dieser Friedhof ein Stück Himmel.“

Sand in den Augen

Nach der schiitischen Mythologie finden sich alle guten Seelen im Wadi as-Salam. Auch wenn der Körper eines Menschen an einem anderen Ort begraben sein sollte, wandert, so der Glaube, die Seele unweigerlich ins „Tal des Friedens“. Im Gegensatz dazu steht der Ort Barhout, von dem es heißt, er liege im südlichen Jemen und sei die heißeste Stelle der Erde. Dort sollen die schlechten Seelen versammelt sein. Nach der Überlieferung können Engel die Leichname der Bösen nach Wadi-e-Barhout bringen – ins „Tal der Bestrafung“, einem verlassenen Gebiet in den unfruchtbaren Gegenden der jemenitischen Al-Mahra-Provinz. Mysterien und Legenden ranken sich um diese Gegend, in der Missetäter angeblich der ewigen Verdammnis verfallen .

Wadi as-Salam dagegen soll vom Propheten Abraham gegründet worden sein. Später wurde der Friedhof von Ali Ibn Abi Talib gesegnet, dem ersten Imam des Islam und direkten Nachfolger des Propheten Mohammed. Der Imam ist neben dem Friedhof in einem Schrein bestattet, der nach Mekka und Medina ein weiterer heiliger Ort für Schiiten ist. Manche seiner Anhänger erhoffen sich viel für ihr Seelenheil, wenn sie in der Nähe des Schreins begraben werden. Sie glauben, dass sie am Tag des Jüngsten Gerichts mit ihrem spirituellen Führer von den Toten auferstehen, während Ungläubigen oder Sündern ein weniger gutes Schicksal beschieden ist.

Daran glauben Laith und seine Familie zwar nicht, aber sie versuchten dennoch, einen Platz in der Nähe von Alis Schrein zu bekommen, um Onkel Aade zu beerdigen. Er war plötzlich im Alter von 70 Jahren in seinem Haus in Hillah in der Provinz Babylon, 60 Kilometer nördlich von Nadschaf, gestorben. Doch auf dem Friedhof regiert das Geld. Die Familie hätte vielleicht die gewünschte Grabstelle finden können, wäre sie bereit gewesen, sehr viel zu bezahlen. „Es ist nicht mehr so viel Platz übrig in der Nähe des Nachfolgers von Prophet Mohammed“, so Said Hussain An Anabi, dessen Familie seit vier Generationen Land auf dem Friedhof verkauft. Mittlerweile würden diese Grabstellen 60 bis 70 Millionen Dinar (38.400 bis 44.000 Euro) kosten. „Dabei handelt es sich um einen Betrag, der nur für die wenigsten erschwinglich ist. Normalerweise verkaufen wir das Land in Blöcken – 50 Quadratmeter Fläche pro Familie. Dort können dann etwa 50 Menschen begraben werden“, erzählt Said in seinem Büro.

Laith musste sich mit 25 Quadratmetern nicht weit vom Haupteingang zufriedengeben, aber er habe sich mit dieser Ruhestätte für seinen Onkel abgefunden, sagt er. „Das Wichtige ist, dass Aade jetzt hier ruht, zusammen mit seinen Lieben in Wadi as-Salam, wo jeder schiitische Moslem beerdigt sein sollte.“ Und dann ist die Zeit gekommen für Meditation und Gebet. Die Trauernden verneigen sich unter einem immer noch tief hängenden dunklen Himmel.

Hoffnung auf ewigen Frieden

Der Friedhofsangestellte Abbas bricht die Stille, als er mit einer Schaufel in die Erde sticht. Mit gebeugtem Rücken gräbt er zielstrebig, erst rechts, dann links und schließlich in der Mitte, wobei er sich den Schweiß mit seiner um den Kopf gewickelten Kufiya trocknet. Nach einer guten halben Stunde sind nur noch die Schultern und der Kopf zu sehen.

„Wenn man gut graben will, muss man ins Loch hineinspringen“, erklärt er, „und dann von innen weiterarbeiten.“ Die Arbeit des Totengräbers – des „Dafan“ – ist ein harter und ermüdender Job, den er gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Habib von seinem Urgroßvater geerbt hat, der das Geschäft zuvor von seinem eigenen Vater übernahm, im Alter von 15 Jahren. „Je kleiner man ist, desto tiefer kann man in den Tunnel hinein, ohne sich wehzutun“, so Abbas, der früh angefangen hat, hier zu arbeiten, jetzt 24 und in der Lage ist, ein Grab in L-Form auszuheben, lang, schmal, sehr gefragt – und das in nur anderthalb Stunden. „Man muss schnell sein, wenn man den Auftrag erst wenige Stunden vor der Beerdigung bekommt. Und man darf nicht zu spät fertig sein.“ Während Abbas seine Hände mit Wasser aus einer Flasche reinigt, läuft der 23-jährige Kareem zwischen den Gräbern hindurch, den Leichnam seiner Mutter auf der Schulter, den er mit seinen fünf Brüdern durch die Wege der weitläufigen Stadt der Toten getragen hat. Ein Windstoß, das Flügelschlagen eines Vogelschwarms und Sand in den Augen beeinträchtigen ihren Weg. Die Blicke der allein männlichen Trauergäste sind auf Rafia fixiert, Ehefrau und Mutter, die zu früh gestorben ist, im Alter von 60 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs.

Kareem wirkt geschlagen, seine Knie haben nachgegeben und seine Hände kratzen am Boden. Es ist der Augenblick eines unermesslichen Verlustes. Gebrochen und unter Tränen ruft er seinen Gott an. Dann ist die Zeit gekommen, Rafia der Erde zu überlassen. Und das geschieht. Als die Beerdigungszeremonie vorbei ist, beginnt die Sonne hinter dem Horizont zu versinken. Und die Last der Trauer, von der die Menschen hier gebeugt werden, lockert ihren Griff. Auf dem staubtrockenen Boden wird im Abenddunst ein Weihrauchzweig entzündet. Weihrauch soll der Hoffnung auf ewigen Frieden Ausdruck geben.

Nicole Di Ilio ist freie Journalistin und arbeitet zum Schwerpunkt Migration. Sie berichtete bisher aus Krisengebieten wie der Ukraine, Palästina und dem Libanon. Dieser Text erschien zuerst auf Englisch im Onlinemagazin Al-Monitor

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