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Sanktionen | Jan van Aken: „Panzerfäuste helfen nicht – wir müssen an die Yachten ran“


Link [2022-03-05 19:18:59]



Die Linke ist gegen deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine. Ihr Außenpolitik-Experte Jan van Aken sagt im Interview, dass die Bundesregierung harte wirtschaftliche Eingriffe wagen müsse – und ein paar unkonventionelle Methoden

der Freitag: Herr van Aken, uns erreichen aus der Ukraine Bilder von Bürgerinnen, die Molotow-Cocktails gießen, um russischen Panzern etwas entgegenzusetzen. Wenn Sie diese Bilder sehen, haben Sie nicht das Gefühl, eine Panzerfaust wäre vielleicht nützlicher?

Jan van Aken: Doch, habe ich. Wenn ich in meinem Haus in Kiew sitze, und es kommen russische Panzer, und ich möchte mich gegen diesen Panzer verteidigen, dann ist für mich, für diesen Menschen in Kiew, eine Panzerfaust besser als keine Panzerfaust.

Aber Sie sind trotzdem gegen Waffenlieferungen?

Ja, denn wenn ich den Blick weite und frage: Hilft diese Panzerfaust der gesamten ukrainischen Bevölkerung? Dann würde ich sagen: Nein! Mit mehr Panzerfäusten sind am Ende zwar mehr russische Panzer zerstört als ohne. Aber aufhalten kann man die Invasion der russischen Armee mit dieser Panzerfaustlieferung nicht. Du müsstest schon unfassbar aufrüsten, um Russland etwas entgegen zu stellen. Und zwar nicht nur in der Ukraine. Das wäre ein Mega-Wettrüsten in Osteuropa über Jahre.

Foto: Imago/Jürgen Heinrich

Jan van Aken arbeitet für die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu Sicherheits- und Friedenspolitik. Er war von 2009 bis 2017 Außenpolitiker der Linksfraktion im Bundestag und von 2004 bis 2006 Biowaffeninspekteur für die Vereinten Nationen

Wenn die ukrainische Armee jedoch nicht unterstützt wird, ist die Ukraine in ein paar Tagen womöglich russisch.

Das passiert aber auch, wenn Waffen geliefert werden, und das ist schlimm. Wir sitzen nicht in einem Haus in der Ukraine, sondern wir müssen langfristige, politische Lösungen für internationale Konflikte finden, und das gilt für alle Kriege und politischen Konflikte. In diesem Moment werden in saudi-arabischen Knästen sehr viele Menschen gefoltert. Sollten wir einmarschieren und sie befreien? Das wäre keine nachhaltige politische Lösung, das würde am Ende mehr Tote kosten. Die Frage lautet also: Was ist das Sinnvollste, was wir von Deutschland aus tun können, um der Ukraine nachhaltig zu helfen?

Ich finde diese Haltung schwierig. Natürlich passiert auf der ganzen Welt die ganze Zeit Schreckliches, aber hier wurde ein Angriffskrieg direkt vor unserer Nase angefangen, und wir sehen, wie die Ukraine zerstört wird, wie Menschen umgebracht werden. Das kann uns doch nicht egal sein, nur weil wir womöglich anderes Unrecht ausblenden.

Warten Sie, das heißt doch nicht, dass der Krieg mir egal ist! Das wird der Linken derzeit viel vorgeworfen: Ich lasse die Leute in Kiew verrecken, wenn ich Waffenlieferungen ablehne.

Das habe ich Ihnen jetzt nicht vorgeworfen.

Ich möchte das trotzdem richtig stellen. Die Linke stand vor einigen Jahren vor der Frage, ob wir für Waffenlieferungen an die Kurdinnen und Kurden in Rojava sind. Ich war dort, ich finde das demokratische kurdische Projekt absolut unterstützenswert, und es war mir ein Anliegen, es gegen den IS zu verteidigen. Und ich habe anfangs tatsächlich gedacht, da wären Waffenlieferungen sinnvoll. Da bin ich gar nicht ideologiefest. Mir wurde jedoch klar, dass es mehr bewirken würde, wenn Deutschland gezielt den IS schwächen würde: Katar unter Druck zu setzen, die Zahlungen an den IS zu unterbinden, zum Beispiel.

Ist das jetzt Whataboutism? Was hat Katar mit Russland zu tun?

Die Parallele zur Ukraine kommt jetzt: Deutschland hält sich zurück, wenn eigene wirtschaftliche Interessen in Gefahr geraten könnten. Katar hält große Anteile an VW, Siemens, der Deutschen Bank. Das ist das eigentliche Problem: Echte Sanktionen gegen Russland wären wirkungsvoller als Waffenlieferungen an die Ukraine, aber das traut sich Deutschland nicht, weil es die eigene Wirtschaft schützen will. Waffenlieferungen sind ein Politik-Ersatz. Durch sie kann die ukrainische Armee der russischen mehr Schaden zufügen, das heißt: es kostet der russischen Seite mehr Menschenleben. Aber am Ausgang des Krieges ändert diese Waffenlieferung nichts, außer, dass es mehr Tote gibt, auf russischer Seite. Aber um eine, wenn man das so sagen kann, „gerechtere“ Verteilung der Toten kann es uns doch nicht gehen.

Der ukrainische Präsident, die ukrainische Bevölkerung bitten uns um Waffen.

Es ist eine legitime politische Entscheidung eines Staates, sich einer Forderung nach Waffenlieferung zu verweigern. Was mich ärgert, ist diese Zuspitzung der Frage nach Waffenlieferungen! Denken Sie an Libyen 2011: „Wenn wir heute Nacht nicht angreifen, werden in Bengasi Zehntausend Menschen sterben“, wurde da gesagt, „die rufen um Hilfe, wir müssen Gaddafi bombardieren!“

Dann haben die USA, Großbritannien und Frankreich entschieden, Gaddafis Truppen zu bombardieren.

Und die Zehntausend in Bengasi wurden gerettet, und wir haben bis heute einen Bürgerkrieg mit vielen zehntausend Toten. Jetzt kommt die Frage, die wirklich weh tut: Retten Sie jetzt zehntausend Menschen in dieser Nacht die Menschen in Bengasi, oder die vielen anderen, die bis heute im Bürgerkrieg sterben? Das ist eine harte Entscheidung, denn Menschenleben darf man nicht gegeneinander aufrechnen.

Zuzuschauen, wie Putin die Ukraine angreift, Wohnhäuser und Schulen bombardiert und Zivilisten umbringt, und sich dabei pazifistisch zu fühlen, das ist tatsächlich hart.

Das klingt jetzt aber auch ganz schön demagogisch: „Wir schauen zu, wie die sterben“?!

Zugegeben. Was ich meine: Durch die sozialen Medien sehen wir direkt zu, wie Russland sich die Ukraine greift. Das ist keine Demagogie: Wir sehen faktisch zu, was passiert. Wenn wir zusehen, aber nichts tun, fühlt sich das brutal an. Mir ist aber klar, dass ein Gefühl keine Grundlage ist für eine politische Entscheidung.

Richtig, und deshalb fühle ich ja auch so mit den Menschen in der Ukraine, deshalb müssen wir für eine sinnvolle, wirkungsvolle politische Unterstützung der Ukraine den Blick weiten. Deutschland könnte durchaus wirksame Sanktionen beschließen, das tut die Bundesregierung aber nicht, weil sie der deutschen Wirtschaft weh tun möchte.

Die EU hat Sanktionen gegen die russische Zentralbank beschlossen, den Ausschluss russischer Banken aus dem Finanz-Kommunikationssystem. Die größten russischen Banken, die Sberbank und Gazprombank, sind von Sanktionen aber ausgeschlossen.

Ja, und vielleicht hilft das auch etwas, wobei die russische Regierung sich auf genau solch ein Szenario natürlich eingestellt hat, unter anderem mit massiven Goldreserven. Ansonsten sind die Sanktionen sehr dünn, jeden Tag nimmt Russland unglaubliche 700 Millionen Dollar für Öl und Gas ein. Deutschland finanziert hier grad mit seinem fossilen Hunger Tag für Tag neue russische Panzer.

Welche Sanktionen schlagen Sie vor?

Meine Frage ist: Wie kann man die Basis Putins in Russland schwächen? Russland ist ein durch und durch kapitalistisches Land, Putins Basis ist also eine machtvolle Kapitalfraktion. Die besteht aber aus sehr viel mehr als nur einigen Banken und den paar reichsten Oligarchen, die gerade von Sanktionen betroffen sind. Erst wenn sich die Schicht darunter, die Zigtausenden Mehrfachmillionäre, gegen Putin wenden, wird es für ihn eng.

Wie kann man diese Leute unter Druck setzen?

Man könnte sie alle auf eine Sanktionsliste setzen. Dann kann man im Prinzip alles, was diese Leute im Westen haben, einfrieren. Das Problem wird dann sein, dass sie vieles in Steueroasen untergebracht haben, das Problem wird sein, dass es kein Immobilienregister in Deutschland gibt. Aber man könnte es versuchen: Die Konten einfrieren, den Zugang zu Yachten und Luxuswohnungen verwehren. Oder noch besser: Alle ukrainischen Geflüchteten in russische Oligarchenpaläste in Westeuropa unterbringen und die Luxusyachten an die Seenotrettungs-Initiative SeaWatch geben! Was meinen Sie, was passiert, wenn am Wochenende Millionäre aus Russland nach München kommen und sie kommen nicht mehr in ihre Prachtvillen?

Ja, was passiert dann? Woher wissen wir denn, in welche Richtung sich die Empörung russischer Millionäre dann richtet – gegen ihren Präsidenten, der sie jahrzehntelang unterstützt hat, oder gegen den Westen, der ein angebliches Nazi-Regime in der Ukraine unterstützt und ihnen das Geld wegnimmt? Was, wenn deren Wut in Nationalismus umschlägt und nicht in Putin-Kritik?

Wer in Russland Fabriken besitzt, sich mit dem Millionengewinn eine Villa bei Berlin geholt hat und ein dickes Bankkonto eingerichtet hat – und plötzlich an das alles nicht mehr rankommt, der wird sich schon überlegen, wie er bestmöglich wieder dieses Leben zurück bekommt. Am Ende geht für viele die Brieftasche vor und nicht der Traum von einem großrussischen Reich.

Aber wie lange dauert das? Ist die Ukraine dann nicht längst platt und in russischer Hand?

Es dauert, das stimmt. Und das tut weh. Die Lieferung von 1.000 Panzerfäusten und 500 Boden-Luft-Raketen ändert daran aber nichts, sie halten Putin nicht davon ab, das zu tun, was auch immer er tun will. Russland ist keine Demokratie, aber Russland ist auch keine totalitäre Diktatur. Die Millionäre, von denen wir sprechen, kontrollieren Teile der Wirtschaft, der Medien. Sie beeinflussen russische Politik.

Hm. Vermutlich haben Sie Recht.

Das klingt ein „aber“ durch? Sagen Sie Ihren Einwand.

Nein, vermutlich haben Sie Recht. Es ist nur... Es ist nicht besonders ermutigend, darauf zu hoffen, dass irgendwelche russischen Millionäre irgendwie Druck auf den Präsidenten ausüben und er seine imperialen Interessen irgendwann mal fallen lässt.

In Saudi-Arabien etwa wäre ein sinnvoller Ansatz „Wandel durch Annäherung“. Das dauert dreißig Jahre und in der Zwischenzeit werden Tausende gefoltert und umgebracht, der Gedanke ist nicht leicht auszuhalten. Wenn Putins Basis sauer ist, wird er nicht morgen mit dem Rückzug beginnen. Aber er könnte sein Kriegsziel herunterschrauben und eine schnellere Exitstrategie suchen.

Ihrer Parteikollegin Sahra Wagenknecht schwebt eine andere Lösung des Konflikts vor: Sie meint, die EU und die Nato müssten die Neutralität der Ukraine zusichern, damit Russland sich zurückzieht.

Die Frage, ob die Ukraine in die EU aufgenommen werden möchte oder nicht, können nur die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst entscheiden. So sehe ich das. Derzeit hat deren Regierung einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt. Es ist nicht an der EU, zu sagen: Nein, bleibt mal besser neutral, das ist besser für unser Verhältnis zu Russland.

Wäre ein neutraler Status, wie Finnland ihn innehat, besser für die Ukraine?

Ich finde ja, aber zu dem finnischen Status gehört, dass Finnland sich eigenständig zu dieser Neutralität entschieden hat – und nicht die EU oder Russland. In einer perfekten Welt wäre es sicher eine gute Idee, würde die EU mit der Ukraine und Russland darüber diskutieren, dass ein neutraler Status für die Ukraine eine gute Option wäre. Aber dieser Zug scheint derzeit abgefahren.

Schon 2013 und 2014, bei den Maidan-Protesten, machte ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung deutlich, dass sie in die EU wollen.

Damals hatte die ukrainische Regierung unter Präsident Wiktor Janukowytsch, entschieden, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union auszusetzen. Das löste starke Proteste aus. Aber die ukrainische Bevölkerung, übrigens auch die Linke in der Ukraine, war in dieser Frage schon damals gespalten. Es ist eine schwierige Situation, schon seit Jahren.

Der russische Einmarsch hat die Argumente derjenigen, die in die EU und in die Nato wollen, nun sicher nicht geschwächt: Wäre die Ukraine in der Nato, gäbe es jetzt keinen russischen Einmarsch.

Dennoch sollte man jetzt nicht an der Ukraine zerren. Das war schon 2013 ein großer Fehler der EU. Leider zerrt Russland nun nicht nur, sondern hat diesen Angriffskrieg angefangen. Dass die Frage der Neutralität der Ukraine in einem möglichen Friedensvertrag, wann auch immer das sein wird, wieder auf den Tisch kommt, halte ich für wahrscheinlich. Die Ukrainer*innen müssen sich dann entscheiden, wie sie sich dazu verhalten.

Nun schlägt Sahra Wagenknecht vor, Russland die Neutralität der Ukraine zuzusichern, und lehnt Waffenlieferungen ab. Gregor Gysi kritisiert Sahra Wagenknecht: „Damit sprecht ihr der Ukraine faktisch ein Selbstverteidigungsrecht ab und seid indirekt dafür, dass sie nur die Chance zur bedingungslosen Kapitulation bekommen.“ Die Linke ist sich in dieser Frage offenbar nicht einig – mal wieder.

Das stimmt nicht. Die Linke ist sich einig, dass dies ein Angriffskrieg ist, den es zu verurteilen gilt. Sie ist sich einig, dass Putin sofort abziehen muss. Sie ist, außer sehr vereinzelter Stimmen, gegen Waffenlieferungen, auch Gegor Gysi ist gegen deutsche Waffenlieferungen, er begründet dies aus der deutschen Geschichte.

Es gibt aber doch einen politischen Konflikt, sonst hätte Gysi diesen Brief wohl kaum geschrieben. Er schreibt, er müsse über seine Rolle als außenpolitischer Sprecher nachdenken.

Was Gysi kritisiert, ist eher ein Zugang, eine Betrachtungsweise Wagenknechts.

Sahra Wagenknecht fragt auf Facebook: Wenn ein Rückzug russischer Truppen „nur um den Preis einer dauerhaften Neutralität der Ukraine zu erreichen ist – ja, für wen wäre das eigentlich schlimm?“ Sie übergeht damit den politischen Wunsch der ukrainischen Bevölkerung.

Sie denkt ausschließlich auf staatlicher Ebene, und dieses Denken ist es, das Gysi – wie ich finde, zu Recht – als empathielos kritisiert.

Wagenknecht sprach bis kurz vor Kriegsbeginn von den „Sicherheitsinteressen“ Russlands. Sollte die Linke nicht spätestens jetzt anfangen, die „Großmachtinteressen“ Russlands als solche zu benennen?

Natürlich hat Russland Sicherheitsinteressen! Jeder Staat hat Sicherheitsinteressen.

Sie meinen, es gehe in der Ukraine um russische Sicherheitsinteressen?

Es war in der Geschichte des Kalten Krieges oft so, dass die Sicherheitsinteressen der jeweiligen Gegner nicht verstanden oder nicht ernst genommen wurden. Was Willy Brand aber gemacht hat: Er hat gesagt, okay, wenn das euer Sicherheitsinteresse ist, dann nehmen wir das ernst und suchen gemeinsam eine Lösung dafür. Auf diese Interessen einzugehen und sie zu respektieren: Das nannte man Entspannungspolitik. Es ging nicht darum, sie richtig oder falsch zu finden.

Für mich als Laiin wäre ein Sicherheitsinteresse Russlands, nicht angegriffen zu werden. Inwiefern bedroht eine westliche Orientierung der Ukraine Russland? Geht es Russland hier nicht vielmehr um die Sicherung seines politischen Einflussgebiets?

Die US-Amerikaner haben 1962 fast einen Atomkrieg vom Zaun gebrochen, weil die Sowjetunion plötzlich vor ihrer Haustür, auf Kuba, Atomwaffen positionierte. Da war wohl ein Sicherheitsinteresse der USA verletzt. Gleichwohl handelte Kuba als souveräner Staat. Wie sich ein Nachbarland verhält, kann durchaus relevant sein für das Sicherheitsinteresse eines Staates.

Ja, das sehen wir derzeit wohl deutlich wie lange nicht mehr.

Die Nato rückt seit Jahren weiter an Russland heran. Im Kalten Krieg war das entscheidend: Die Vorwarnzeit bei einem atomaren Angriff. Das macht einen Unterschied.

Okay. Die Nato-Osterweiterung, die aus westlicher Perspektive eine souveräne demokratische Entscheidung der Staaten Osteuropas ist, kann aus russischer Perspektive als Gefahr betrachtet werden. Dennoch würden Sie mir wohl zustimmen, dass westliche Atomwaffen heute immer gleich weit weg von Russland sind, egal, ob die Ukraine zur EU gehört oder nicht: Denn die Ukraine hat ihre Atomwaffen 1994 abgegeben! Würde die Nato jetzt Atomwaffen in der Ukraine positionieren wollen, hätten wir wohl eine andere Diskussion. Die konkrete Angst Putins scheint doch viel eher zu sein, dass die Großmacht Russland zusammenschrumpft auf den Staat Russland.

Ja. Ich befürchte, Sie haben Recht, es geht hier wahrscheinlich nicht mehr nur um Sicherheitsinteressen. Putin hat es ja selbst aufgeschrieben: Er will das großrussische Reich zurück.

Wozu haben wir dann diese Schleife über die angeblichen russischen Sicherheitsinteressen gedreht?

Weil wir doch beides mitdenken müssen. Vielleicht scheitert Russland jetzt mit einer Übernahme der Ukraine, vielleicht wollen sie es gar nicht. Aber selbst dann spielen die Sicherheitsinteressen immer noch eine Rolle. Ganz sicher wissen wir nicht, wie weit er wirklich gehen will. Aber selbst wenn es Putin tatsächlich „nur“ um eine Demilitarisierung der Ukraine ginge – Betonung auf „wenn“, und das „nur“ ausdrücklich in Anführungszeichen! –, würden Waffenlieferungen an die Ukraine am Kräfteverhältnis nichts ändern. Vor allem nicht, wenn der Westen über das Ölgeld jeden Tag 50 neue Panzer für Russland finanziert.

Wir sind wieder bei den Worten Gysis, der sagt: Mit dieser Argumentation lässt man der Ukraine nur die Möglichkeit der Kapitulation. Und wenn es Putin „nur“ um die Demilitarisierung ginge, warum bombardiert er Fernsehtürme und Wohnhäuser? Das weist doch daraufhin, dass es ihm um mehr geht als um Demilitarisierung: um Demoralisierung. Darum, dass die Leute in der Ukraine sich gefälligst nicht gen Westen richten sollen.

Ja, das stimmt, genau danach sieht es aus. Eines dürfen wir aber nie vergessen: Kriege können praktisch nur durch Verhandlungen beendet werden, und das Ergebnis ist oft ein Kompromiss. Es ist möglich, dass Putin sich angesichts dieser Gegenwehr oder wegen zunehmendes Druckes in Russland mit einer Demilitarisierung der Ukraine zufrieden gibt. Die Ukraine müsste dann entscheiden, ob sie das akzeptiert.

Und was können wir tun?

Wir dürfen von Deutschland aus aber nicht nur in die Ukraine schauen. Wir müssen, gerade als Linke, auch nach Russland schauen, von Deutschland aus: Welche politische Basis müssen wir wirtschaftlich in Russland angreifen, um Putin zu schwächen? Welche Folgen hätte dieser wirtschaftliche Angriff für Deutschland? Wir müssen bereit sein, auch eigene wirtschaftliche Interessen zu opfern, um Putin zu schwächen.

Das geht an die deutsche Regierung. Und wir selbst? Sollen wir die Heizung ausstellen? Sollen wir einen Friedensmarsch nach Kiew organisieren, unbewaffnet?

Im Irakkrieg 2003 sind Friedensaktivist*innen aus Europa als menschliche Schutzschilder nach Bagdad gereist, um Bombardierungen wichtiger Infrastruktur zu verhindern. Und das „Frieren für den Frieden“ finde ich auch eine gute Idee – nicht so sehr als individuelle Handlung gegen den Krieg, sondern als Zeichen der Solidarität, als gemeinsame Aktion von sehr vielen. Das ist dann auch ein Signal an die Bundesregierung für härtere Sanktionen, die eben auch uns weh tun könnten. Auch eine Forderung nach autofreien Wochenenden gegen die Abhängigkeit vom russischen Öl wäre jetzt doch genau richtig. Ich wünsche mir, dass die gesellschaftliche Linke wieder mehr über solche Formen des zivilen Widerstands diskutiert, statt über Waffenlieferungen.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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