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Sachlich richtig | Stalin’sche Paranoia, Sexpol, kosmische Strahlung


Link [2022-06-04 15:29:26]



Prof. Dr. Erhard Schütz stellt seine Sachbücher des Monats vor. Eine Reise von Stalin'scher Paranoia über Wilhelm Reich bis in die Abgründe des Tourismus in der DDR

Heinz Langerhans, dessen Werkbiografie hier vorgestellt wurde (der Freitag 14/2022), war ein brillanter Kopf des Rätekommunismus, der früh die totalitären Züge des Stalinismus erfasste. Heinrich Vogeler tat das nicht. Er starb 1942 in einem Internierungslager in Karaganda an den Folgen dessen, was man Vernichtung durch Arbeit nennen könnte. Bis dahin war der begabte Maler im sowjetischen Exil ein wendungstreuer Kommunist, was ihm gegen die Stalin’sche Paranoia aber nicht half.

Nun kann man, zusammengestellt von einem Avantgarde-Forscher und einer Spezialistin für die Weimarer Republik, seine Schriften von 1899 bis 1941 in einer repräsentativen Auswahl lesen. Man könnte vieles davon rubrizieren unter paraintellektueller Malerverstiegenheit oder Ringen mit den Dämonen der Moderne. Ob er 1919 flammend für die Räte plädierte, für Freiheit der Liebe, „das Weib“ als „lichtvolle Siegerin“ gegen die „zusammenbrechende Welt der habgierigen Profitwirtschaft“ sah, ob ihm die Sowjetunion zum himmlischen Jerusalem auf Erden wurde, ob er seinen Weg zum Sozialistischen Realismus rechtfertigte oder Grünewald und Dürer 1941 im Rundfunk gegen die „faschistischen Ketten“ beschwor – es war eine flammende, geradezu erotische Gutherzigkeit, die seinen Tod umso tragischer macht.

Und da war auch Wilhelm Reich, dessen Sexpol-Bewegung und raubgedruckte frühe Schriften um 1968 eine Wiederauferstehung erlebten. Der Shootingstar der Psychoanalyse, Mitglied der KPÖ seit 1927, gehörte mit Fromm und Bernfeld zu jenen, die Psychoanalyse und Arbeiterbewegung zusammenbringen wollten. Dem persönlichen Bekunden nach von Kindheit an ein Sexmaniac, nach dem Zeugnis Nahestehender „genialer Psychopath“ (Annie Reich) oder „Tyrann“ (Myron Sharaf), flog er 1933 aus der KP, 1934 aus der Psychoanalytischen Vereinigung. Nachdem er über Norwegen 1939 in die USA emigriert war, entwickelte er in Universalisierung des „Orgasmusreflexes“ seine Orgontherapie, beschwor einen fließenden Übergang von belebter und unbelebter Materie. Verfasste immer abstrusere Schriften, glaubte an UFOs und dass die Orgonstrahlung gegen Radioaktivität helfe. Baute „Orgonakkumulatoren“, die gegen Krebs helfen sollten. Da das ein medizinisches Versprechen war, wurde gegen ihn ermittelt, woraufhin er nach ausufernden bürokratischen Verfolgungen ins Gefängnis kam, wo er 1957 starb. Winand Herzog hat Reichs Leistungen sowie Irr- und Wahnwege unter Auseinandersetzung mit der Rezeption, der eigenen wie der allgemeinen, ebenso temperamentvoll wie kompakt reflektiert.

Die Bürger der DDR waren spätestens in den 1980er Jahren Urlaubs-Weltmeister. Wiewohl sie wahrlich nicht in alle Welt reisen konnten und der Anbietermarkt zu Hause wie großenteils im sozialistischen Ausland nur selten die erwünschte Qualität bot. Artikel 16 der Verfassung: „Jeder Arbeitende hat ein Recht auf Erholung, auf jährlichen Urlaub gegen Entgelt.“ Freilich nicht auf gleich guten, wie sich schnell zeigte – eine Privilegiengesellschaft auch des Urlaubs. Zwar wurden Privatanbieter schon mal offiziell als „Ratten“ oder „Eiterbeule“ apostrophiert, aber ohne sie ging es nicht, noch weniger ohne Tricks und Beziehungen. Liest man Hasso Spodes umfassende und gründliche Darstellung, kann man den Eindruck gewinnen, dass man das gesamte Jahr über nur mit der Organisation von Urlaub und Freizeit befasst war. Klandestiner Ringtausch zwischen den Betrieben, Konkurrenz von FDGB und FDJ, Wandern oder Camping, Ost- oder Plattensee, Datsche oder Interhotel, Individualreisen oder Sozialtourismus. Der subventionierte Sozialtourismus war nicht durch Wirtschaftsleistung abgedeckt – für jede eingenommene Mark legte der Staat drei bis vier drauf. Dennoch gab er zu dauernder Unzufriedenheit Anlass, zumal in den – nicht selten überzogenen – Vergleichen mit dem Westen. Spodes Buch dürfte wohl für lange Zeit die beste Darstellung der urlaubenden DDR sein.

Sieben Männer, aus 300 Militärpiloten der DDR ausgesiebt, werden im Oktober 1976 im Militärmedizinischen Institut Königsbrück getestet. Der dortige Flugmediziner Hans Haase in seiner Habilitationsschrift: „Schwerelosigkeit, kosmische Strahlung, künstliches Wohnmilieu, nervlich- emotionale Anspannung“. Vier von ihnen dürfen nach Moskau, zwei bleiben als Kosmonauten übrig: Sigmund Jähn und Eberhard Köllner. Die DDR knüpfte nicht nur an die interplanetaristischen Visionen des sowjetischen Neuen Menschen an, sondern betrieb im Block-Wettlauf um den Sieg im „Krieg der Sterne“ sehr aktiv einschlägige Optimierungsforschung. Das war, so Ines Geipel, deren Interesse einschlägig leidvoll geprägt ist, auf vielfache Weise direkt verquickt mit sportmedizinischen Experimenten zur Optimierung für das Leben im Weltraum, an Tieren, Männern, Frauen, Kindern und Jugendlichen. Mal mit, meist ohne deren Wissen. Geipel erzählt das zugleich als Wege ihrer Recherchen, von deren Schwierigkeiten und mysteriösen Behinderungen.

Info

Heinrich Vogeler. Schriften Walter Fähnders, Helga Karrenbrock (Hrsg.) Aisthesis 2022, 289 S., 25 €

Wilhelm Reich. Der Funktionär des Orgasmus. Leben – Werk – Wirkung – Kritik (1897 – 1957) Winand Herzog edition paroikia 2022, 121 S., 12 €

Urlaub Macht Geschichte. Reisen und Tourismus in der DDR Hasso Spode be.bra 2022, 208 S., 22 €

Schöner Neuer Himmel. Aus dem Militärlabor des Ostens Ines Geipel Klett-Cotta 2022, 288 S., 22 €

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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