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Russland | Was die Ostukraine mit Katalonien zu tun hat


Link [2022-02-26 11:38:40]



Statt über Wladimir Putins Gedanken zu rätseln und sich in dürftiger Sanktionspolitik zu gefallen, sollte Europa etwas ganz Neues wagen. Über die Suche nach Lösungen

„Für Frieden darf es nie zu spät sein!“ So lautet die Aufmacher-Schlagzeile der aktuellen, bereits am Mittwoch redaktionell abgeschlossenen Ausgabe des Freitag. Sie klingt wie ein verzweifelter Appell an die Politik, einen Krieg in der Ukraine in letzter Minute noch abzuwenden. Doch nur eine Nacht später ist klar: die Hoffnung auf Vernunft hat getrogen. Russlands Großmachtpolitik katapultiert Europa zurück ins 19. Jahrhundert. Alle Friedens- und Entspannungsideen liegen auf Eis, das diplomatische Ringen um eine einvernehmliche Lösung ist der Lächerlichkeit preisgegeben. Mit „Kriegsverbrechern“ kann man nicht verhandeln!

Wie lange die Konfrontation dauert, wissen wir nicht. Vermutlich bis zum Ende von Putins Amtszeit. Und trotzdem wird die Suche nach Lösungen irgendwann wieder auf der Tagesordnung stehen. Vielleicht wird man dann ernsthafter und konstruktiver miteinander reden als dies in den vergangenen Jahren der Fall war. Man hat zu viele Chancen vertan und zu wenige wahrgenommen.

Warum hat die europäische Politik die Dinge so schleifen lassen? Welche Ideen hätte die EU einbringen können? Davon handelt der nachfolgende Beitrag, der – vor Beginn der russischen Invasion – im gedruckten Freitag erschienen ist.

Wolfgang Michal

Für die europäische Linke war Russland lange Zeit das Hassobjekt Nummer eins. Denn das Zarenregime galt als treibende Kraft jener „Heiligen Allianz“ aus Russland, Österreich und Preußen, die ab 1815 alle demokratischen Bestrebungen auf dem Kontinent erstickte. Nicht wenige Linke fürchteten gar, das russische Imperium werde auch Westeuropa unterjochen. Karl Marx und Friedrich Engels bildeten da keine Ausnahme. Man muss nur die im Februar 1890 verfasste Polemik von Friedrich Engels über „die auswärtige Politik des russischen Zarentums“ lesen. Auch die deutsche Sozialdemokratie glaubte bis in den August 1914, sie müsse das Vaterland gegen russische Eroberungspläne schützen, und zog stolz in den Krieg.

Nach der Oktoberrevolution wendete sich das Blatt. Nun kam alles Gute aus dem Osten. Die Heilige Allianz der Weltrevolutionäre mit dem bolschewistischen Russland, die Komintern, spaltete die europäische Linke und stürzte sie ins Unglück. Es folgten Weltkrieg, Teilung des Kontinents und Blockkonfrontation. Erst der rasche Ausbau der Atomwaffenarsenale sowie Berlin- und Kubakrise zwangen beide Seiten, eine friedliche Koexistenz zu verabreden. Es schlug die Geburtsstunde der Entspannungspolitik.

Da diese – neben der überfälligen Anerkennung der Realitäten und der Aufarbeitung der Vergangenheit – viele Erleichterungen für die Menschen in Ost und West mit sich brachte, konnte die SPD 1969 erstmals den Kanzler stellen und 1972 sogar stärkste Partei werden. Heute ist das wieder so, wenn auch auf niedrigerem Niveau. Und so stellt sich manchen besorgten Beobachtern die Frage: Kann die Entspannungspolitik von damals einfach fortgesetzt werden oder haben diejenigen recht, die jede Entspannungspolitik gegenüber Russland als feiges Appeasement abkanzeln und Wladimir Putin unterschwellig (und geschichtsverblödend) mit Hitler gleichsetzen?

Entspannungspolitik der EU

Solche Fragen sind absurd. Denn Deutschland kann die alte Entspannungspolitik schon aus logischen Gründen nicht fortsetzen. Ihr entscheidender Antrieb war es, die Mauer durch „vertrauensbildende Maßnahmen“ durchlässiger zu machen. Das ist seit 1989 obsolet. Andererseits ist es bezeichnend für die Dürftigkeit heutiger Außenpolitik, wenn dem Westen nichts anderes einfällt, als Russlands Völkerrechtsverletzungen mit immer neuen Sanktionen zu „bestrafen“. Nein, nicht Deutschland, die EU muss ein zeitgemäßes Modell von Entspannungspolitik entwerfen.

Wie könnte das aussehen? Derzeit haben die Europäer das Problem, dass sie bei Konflikten zwar gern nach „Deeskalation“ rufen, sich aber um die praktische Umsetzung wenig kümmern. Es reicht ihnen völlig, wenn sie Konflikte „einfrieren“, aussitzen oder ignorieren können. Weder Deutschland noch Frankreich haben darauf gedrungen, dass die in Minsk beschlossenen Vereinbarungen von Russland und der Ukraine erfüllt werden. Statt den versprochenen Autonomiestatus für die Ostukraine in der Verfassung zu verankern, verschleppte die ukrainische Regierung das Vorhaben und verhängte eine Wirtschaftsblockade über die eigene Region. Das verschlechterte die dortigen Lebensbedingungen so, dass die Bevölkerung geradezu in die Arme Russlands getrieben wurde.

Ähnlich verstockt verhält sich Putin: Statt seine Leute aus dem Gebiet der Ukraine zurückzuziehen, infiltrierte Russland die Separatistengebiete nach allen Regeln der Kunst und verschärfte den Konflikt, anstatt ihn zu befrieden. Die Regierungen Frankreichs und Deutschlands schauten dem Treiben zu, unternahmen aber nichts, da sie nicht unmittelbar betroffen waren. Während die Entspannungspolitik vor 1990 auf dem existenziellen Interesse Europas gründete, die eigene Teilung zu überwinden, gleicht die heutige Entspannungspolitik einem Luxusprogramm: Sie kann stattfinden, muss aber nicht. Die Vermittler des Minsker Abkommens hatten ja die Erfahrung gemacht, dass es in den abtrünnigen Gebieten Georgiens, in Abchasien und Südossetien, vergleichsweise ruhig geblieben war. Auch die 2008 erfolgte Anerkennung durch Russland änderte daran nichts. Etwas weiter westlich, in der Republik Moldau, fristete Transnistrien ein relativ konfliktarmes Dasein als russisches Einflussgebiet. Kurz: Europa sah keinen Handlungsbedarf.

Autonom, aber nicht unabhängig

Dabei hat Moldawien ein gutes Modell für die Ostukraine im Angebot: Die kleine Provinz Gagausien genießt seit 1994 weitreichende Autonomie, ohne vollständig unabhängig zu sein. Doch die EU scheut sich, derartige Modelle als Konfliktlösung vorzuschlagen, weil sich ihre eigenen Mitgliedsländer mit zahlreichen Autonomiebegehren konfrontiert sehen. Würde man der Ostukraine zu einem attraktiven Autonomiestatus verhelfen, könnten sich Katalanen, Basken, Korsen und Sizilianer, vielleicht auch Sachsen darauf berufen. Also begnügt man sich mit „deeskalierenden“ Fototerminen für den heimischen Wahlkampf.

Statt sich nun weiter die Köpfe zu zerbrechen, was in Putins Gehirn wohl vorgehen mag, ob er an Zahlenmystik glaubt oder an ein neues Zarenreich, sollte die EU nach dem Modell ihres „Europas der Regionen“ ein Konzept erarbeiten, das geeignet ist, die eingefrorenen Konflikte an den Rändern der ehemaligen Sowjetunion bevölkerungsschonend aufzutauen und einer konstruktiven Lösung zuzuführen. Das wäre der Beginn einer europäischen Entspannungspolitik, die allen Seiten nützt.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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