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Russland/USA | Ist eine Eskalation in der Ukraine Teil der Strategie der USA?


Link [2022-05-21 23:12:43]



Mit einem Lend-Lease-Programm riesigen Ausmaßes unterstützen die USA die Ukraine. Ein Lend-Lease-Programm ging auch dem Kriegseintritt der USA 1941 voraus. Wiederholt sich gerade die Geschichte?

In diesem vom russischen Krieg gegen die Ukraine geprägten Frühjahr scheinen die Geister der Geschichte Washington D.C. heimzusuchen. Um die Hilfe für die Ukraine zu beschleunigen, hat der US-Kongress den Lend-Lease-Act (Leih- und Pachtgesetz) verabschiedet – das erinnert stark an das Lend-Lease-Gesetz von 1941, welches es US-Präsident Franklin D. Roosevelt erlaubte, kriegswichtiges Material an das britische Empire, China und Griechenland zu liefern. Washington stellt nun 2022 die enorme Summe von 47 Milliarden US-Dollar zur Verfügung. Das entspricht einem Drittel des Bruttoinlandsproduktes der Ukraine vor dem Krieg. Das läuft auf nichts weniger hinaus als auf die Finanzierung eines totalen Krieges.

Lend-Lease ist eine Erfindung aus Kriegszeiten. Der größte Teil der 1941 anberaumten Hilfe waren Rüstungsgüter – etwa Lastwagen, die die große Gegenoffensive der Sowjetunion 1942 mit ermöglichten. Zum Zeitpunkt der Verabschiedung, im März 1941, befanden sich die USA nicht im Krieg. Lend-Lease aber war der Moment, in dem die USA ihre Neutralität aufgaben – und entscheidend für ihren Aufstieg zu der Hegemonialmacht, die sie im Guten wie im Schlechten bis heute sind.

Von Lend-Lease zu Pearl Harbor

Die großzügige Unterstützung der USA helfe, so das damals beförderte Narrativ, einen guten Krieg gegen ein böses Regime zu gewinnen. Der Vollständigkeit halber muss man aber den ganzen zeitlichen Bogen in den Blick nehmen, vom März 1941 über die Atlantic-Charta im August 1941 zu Pearl Harbor im Dezember und zum Eintritt der USA in den Krieg. Durch die Unterstützung für China und das britische Empire war der Lend-Lease Act entscheidend, um aus zwei voneinander unabhängigen Kriegen – dem japanischen gegen China und dem deutschen in Europa – einen Weltkrieg zu machen.

Wenn der US-Kongress jetzt ein neues Lend-Lease-Programm auf den Weg bringt, drängt sich die Frage auf: Ist eine Eskalation Teil des Plans?

Sowohl Freunde als auch Gegner Franklin D. Roosevelts bestanden von Anfang an darauf, dass die versteckte Agenda von Lend-Lease die Provokation eines Krieges mit Nazi-Deutschland gewesen sei. Heute würden die meisten Historiker argumentieren, dass die Intentionen des Präsidenten weniger klar waren. Selbst nach Pearl Harbor schien es alles andere als sicher, dass Roosevelt eine Mehrheit für eine Kriegserklärung an Deutschland finden würde. Wie Brendan Simms und Charlie Laderman in ihrem Buch Hitler’s American Gamble, einer beeindruckenden Rekonstruktion der schicksalshaften Woche nach Pearl Harbor, zeigen, war die erste Reaktion auf den Angriff durch Japan, die Lend-Lease-Lieferungen auszusetzen – London und Moskau reagierten entsetzt. Es war nicht Roosevelt, sondern Hitler, der das Bündnis der Alliierten rettete, indem er am Nachmittag des 11. Dezember 1941 den USA den Krieg erklärte.

Wie reagiert Wladimir Putin?

Damals wie heute waren es die Gegner der USA, die vor der Entscheidung standen, ob sie von wirtschaftlicher zu militärischer Konfrontation übergehen sollten. Damals wie heute sind die Beweggründe dieser Gegner unklar. Nach der Ankündigung der Zentralbank-Sanktionen am 28. Februar rasselte Russlands Präsident Wladimir Putin mit seinem nuklearen Säbel. Wenn US-Präsident Joe Biden nun ein gigantisches Hilfspaket zum Gesetz macht – wer weiß, wie Putin darauf reagiert? Es stellen sich weitere Fragen: Wird die Ukraine nur Waffen erhalten, um Putins Armee aus dem Land zu vertreiben? Oder werden die USA Kiew auch dafür ausstatten, auf russischem Gebiet anzugreifen?

1941 sah die anglo-amerikanische Strategie vor allem beispiellose Bombardements deutscher Städte vor, auch gegen die Zivilbevölkerung gerichtet. Mit konventionellen Bomben war das ein schwieriges Unterfangen. Vorgesehen war aber auch, dass im Gegenzug, mit der Tizard-Mission, für die US-Lieferungen britisches Know-How zur Entwicklung von Atombomben an die USA transferiert wurde. Hinter dem schönen Narrativ vom guten, demokratischen Lager, das einen Krieg gewinnt, lauerte die Gefahr, einen apokalyptischen Weltkrieg zu entfesseln.

Das war der Alptraum der Gegner Roosevelts 1941. Sie haderten damit, dass die USA in einen zweiten schrecklichen Krieg hineingezogen würden, ebenso wie mit einer Militarisierung der Weltordnung. Das war keine randständige Meinung: Den Lend-Lease-Act 2022 verabschiedete der Senat einstimmig, 1941 votierte ein Drittel des Senats dagegen.

Was Winston Churchill wollte

Roosevelt wusste, dass die US-Öffentlichkeit nicht für einen Krieg bereit war. Und er hoffte, der Lend-Lease-Act würde es ihm erlauben, einen Kriegsaufruf zu vermeiden. Das war die Stimmung, als Winston Churchill im Februar 1941 an die USA appellierte, nicht in den Krieg einzutreten, sondern Großbritannien und das Empire mit dem nötigen Gerät auszustatten: „Wir bringen den Job dann zu Ende.“ Aber das Ausmaß des Lend-Lease-Programms machte sehr klar, dass die USA andere dafür bezahlten, an ihrer Stelle Krieg zu führen.

Genau so ist es heute. Die USA und ihre Verbündeten entscheiden aus sehr guten Gründen, in diesem Krieg, an dem sie sich nicht direkt beteiligen, eine Seite zu unterstützen – wie Roosevelt mit Blick auf den heroischen Widerstand derjenigen, die sich gegen einen Angriff wehren, und außerdem mit Blick auf das geopolitische Gleichgewicht. Wenn Russland beschlossen hat, sich selbst am Felsen der Ukraine zugrunde zu richten, und die Ukraine zum Kampf bereit ist – dann sei es so.

Wenn das der Plan ist und Wladimir Putin erlaubt, diesen weiterzuverfolgen, dann hat dieses Vorgehen durchaus seine Logik. Die Rechnung dahinter ist allerdings so kaltblütig, dass es kein Wunder ist, dass sie in nur halb erinnerten Geschichten vom Zweiten Weltkrieg verkleidet wird. Wobei das Happy End von damals vorausgesetzt wird, ohne offen über die dafür notwendigen Opfer zu reden.

Adam Tooze ist Professor für Geschichte an der Columbia University. Im Freitag war zuletzt sein Text „Streit um John Mearsheimer: Er sah den Ukraine-Krieg kommen“ zu lesen.

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