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Russland/NATO/USA | Steter Ausnahmezustand


Link [2022-02-12 09:52:43]



Krieg als Garant des Friedens? Der Ukraine-Konflikt weckt Erinnerungen an das Buch „1984“ des britischen Autors George Orwell

Der Lärm um die Ukraine wird immer schriller. Und dennoch: Den Krieg wird es so, wie er gerade von vielen Seiten mit immer neuen Spekulationen beschworen wird, nicht geben. Weder droht Russland mit Krieg, noch ist es an einem Einmarsch in die Ukraine interessiert. Der würde ökonomisch und politisch in einem kritischen Maße belasten. Russland will nur verhindern, dass die Ukraine voll und ganz zum NATO-Land wird.

Auch Joe Biden tönt nur, um sich dann gleich wieder zu relativieren. Selbst Außenministerin Annalena Baerbock, die gern militant wirkt, baut sich zwar drohend gegen Russland auf, zeigt aber keinen wirklichen Angriffswillen. Es geht erkennbar nicht um offenen Krieg mit Russland, sondern um dessen Einschnürung, wenn möglich um ein Totrüsten. Wobei die gesamte Propagandamacht westlicher Akteure zugleich erkennen lässt, dass nicht einer bereit ist, für die Ukraine ins Feuer zu gehen und kriegerischen Worten militärische Taten folgen zu lassen.

Halten wir einfach fest: Russland als Herzland Eurasiens – verbunden zudem mit China, und dies umso enger, je länger der Bedrohungsmarathon von USA, NATO und EU andauert – wäre in einem Krieg mit konventionellen Waffen nicht zu bezwingen. Es ließ sich schon in der Vergangenheit durch Eroberungskriege nicht einnehmen, geschweige denn unterwerfen. Man erinnere sich an die gescheiterten Versuche Napoleons Anfang des 19. Jahrhunderts, des deutschen kaiserlichen Heeres im Ersten Weltkrieg und von Hitlers Wehrmacht im Zweiten. Abgesehen davon hätte der Einsatz von Kernwaffen auch für den, der sie zuerst verwendet, tödliche Folgen.

Eingefrorene Konflikte

Es wiederholt sich derzeit nicht einfach der „Kalte Krieg“ zwischen zwei Blöcken. Was wir erleben, sind vielmehr die hysterischen Versuche des Westens, seine globale Dominanz unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges oder gar eines Atomkrieges angesichts einer unübersehbaren Neugliederung der globalen Kräftekonstellation aufrechtzuerhalten. Beim genauen Hinschauen zeigt sich, dass die Rhetorik gegen Russland umso lauter wird, je weniger die westlichen Akteure in der Lage sind, das Angedrohte tatsächlich umzusetzen. Nehmen wir als Beispiel nur „Nord Stream 2“. Will Annalena Baerbock der deutschen Bevölkerung bei der Abhängigkeit von Gasimporten aus Russland wirklich zumuten, den „Preis“ dafür zu zahlen, wenn nichts mehr geliefert wird? Das dürfte sie politisch nicht überleben. Oder nehmen wir die Forderung, Russland aus dem internationalen Zahlungsverkehr des SWIFT-Systems auszuschließen. Wie will Deutschland dann seine Gasimporte aus Russland bezahlen? Wie den sonstigen Warenverkehr? Ganz zu schweigen davon, dass ein Einsatz von Waffen gegen Russland, seien es konventionelle oder nukleare, zu einer Verwüstung Europas, besonders Deutschlands, im Herzen des Kontinents führen würde. US-Präsident Biden kann einen solchen Waffeneinsatz nicht wollen. Bei einem mit atomar bestückten Langstreckenraketen ausgetragenen Schlagabtausch würden auch die USA nicht unberührt bleiben. Das wissen alle Akteure.

Man wird es erleben, dass sich die größten Scharfmacher letztlich zum „Dialog“ einfinden, weil es den großen Krieg, der den Gegner vernichten könnte, als einfachen Ausweg aus der heutigen Transformationskrise nicht mehr gibt. Er wäre nur dazu angetan, die eigene Vernichtung einzuleiten. Was es gibt, das sind eine Zunahme regionaler Brandherde und das Auftauen eingefrorener Konflikte in diversen Grenzbereichen und sich überschneidenden Einflusszonen der Blöcke. Damit kann man sich gegenseitig in Schach halten. Hier ist der Westen gegenüber Russland im Vorteil, das von Konfliktzonen aus der Erbmasse der Sowjetunion wie Transnistrien, Südossetien oder Abchasien umgeben ist. Die Ukraine gehört wegen ihrer Geschichte in der Sowjetunion, der Zeit nach der Unabhängigkeit 1991 und der Tatsache, dass es sich um ein binationales Land mit einem russischen Bevölkerungsanteil von einem Fünftel handelt, ebenfalls dazu. Der seit dem Maidan-Umsturz von 2014 schwelende Konflikt wird – auch als Stellvertreterkrieg – stetig befeuert. Bestenfalls lässt er sich durch neue Normandie-Verhandlungen einfrieren. Unabhängig davon dürfte es westlichen Akteuren auch darum gehen, Russland wie einst die UdSSR der 1980er in einen Rüstungswettlauf zu zwingen, um es ökonomisch zu schwächen.

Dies alles lässt Erinnerungen hochkommen, die man schon lange überwunden glaubte. Der britische Autor George Orwell beschrieb 1949 in seinem Buch 1984 die drei großen Machtblöcke: Eurasien, Ozeanien und Ostasien. An ihren Grenzen, wo sich die Einflusszonen überlappen, werden beständig Kriege geführt, die aber nichts Wesentliches an der Grundkonstellation zwischen diesen drei Mächten ändern. Die Kriege führen Spezialtruppen, während die Bevölkerung unter der Parole „Krieg ist Frieden“ durch volle technische Kontrolle, inklusive mentaler und gesundheitlicher Überwachung, in einem dauerhaften Ausnahmezustand ruhig gehalten wird. Wer diese Art des Friedens in Frage stellt, dem droht Vernichtung.

Einige Sätze aus dem Kapitel „Krieg ist Frieden“ mögen diese Art des Friedens verdeutlichen. „In der einen oder anderen Kombination“, schreibt Orwell, „befinden sich diese drei Superstaaten ständig im Krieg, und das seit 25 Jahren. Krieg ist jedoch nicht mehr der verzweifelte Vernichtungskampf wie in den Anfangsjahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Es ist eine Kriegführung mit begrenzten Zielen zwischen Opponenten, die nicht in der Lage sind, einander zu vernichten, die keinen materiellen Kriegsgrund haben und nicht durch einen echten ideologischen Unterschied gespalten sind. (...) Das Problem bestand darin, wie man die Räder der Industrie am Laufen halten konnte, ohne den realen Wohlstand der Welt zu vergrößern. (…) Denn wenn alle Menschen gleichermaßen in Muße und Sicherheit lebten, würde die große Masse der Menschen, die normalerweise aufgrund ihrer Armut verdummt ist, sich bilden und damit lernen, selbstständig zu denken; und wenn dies einmal geschehen wäre, würden sie früher oder später erkennen, dass die privilegierte Minderheit keine Funktion hatte, und sie würden sie hinwegfegen. Das Problem bestand darin, wie man die Räder der Industrie am Laufen halten konnte, ohne den realen Wohlstand der Welt zu vergrößern. Waren mussten produziert, durften aber nicht verteilt werden. Und in der Praxis war der einzige Weg, dies zu erreichen, die kontinuierliche Kriegführung. Der Krieg wird heute von jeder herrschenden Gruppe gegen ihre eigenen Untertanen geführt, und das Ziel des Krieges besteht nicht darin, Gebietseroberungen zu erzielen oder zu verhindern, sondern die Gesellschaftsstruktur intakt zu halten. Ein wirklich dauerhafter Frieden wäre das Gleiche wie ein permanenter Krieg. Dies ist (...) die innere Bedeutung der Parteiparole: KRIEG IST FRIEDEN.“

Die Antwort ist einfach

Selbstverständlich lässt sich das nicht eins zu eins auf heute übertragen. Noch bestehen erhebliche Unterschiede zwischen Euramerika, Russland und China, doch schrumpfen sie mit dem Vormarsch des digitalen Kapitalismus tendenziell auf folkloristische Besonderheiten. Noch sind die Ressourcen, die für die industrielle Entwicklung gebraucht werden, nicht gleichmäßig verteilt. Noch wird um die Gasversorgung gestritten, die Entwicklung neuer Energiequellen, einschließlich der Atomenergie, zeichnet sich jedoch ab. Noch ist die technische Kontrolle der Bevölkerung nicht perfekt und nicht global vereinheitlicht. Noch ist die Einordnung in ein Regime der Volksgesundheit nicht zu einem täglichen Ritual vor dem „Auge“ des „Großen Bruders“ geworden wie bei Orwell. Aber Grundelemente der von ihm beschriebenen Entwicklung tauchen aus dem Nebel der aktuellen Kriegspropaganda auf, zumindest wie sie von westlicher Seite betrieben wird. Es gibt den Versuch, die Bevölkerung in die Akzeptanz einer steten Ausnahmesituation zu treiben, in der Krieg als Garant des Friedens erscheint.

Was haben wir dem entgegenzusetzen? Die Antwort ist im Grunde genommen ganz einfach: Es ist genau das zu tun, was von den kriegstreiberischen Kräften nicht gewollt wird. Selbst denken, selbst Wege der Kooperation suchen, selbst Brücken bauen, im Kleinen wie im Großen. Gibt es einen anderen Weg? Wohl kaum.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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