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Russland/Deutschland | Flucht aus Russland nach Berlin: Gekommen, um zu bleiben


Link [2022-06-11 14:42:41]



Auch Russinnen und Russen leiden unter dem Krieg in der Ukraine – und fliehen. Viele landen in Berlin – und fragen nach ihrer langfristigen Perspektive

Es ist die sozialistische Architektur in Berlin, mit der Aleksey Mirsky die Sehnsucht nach seiner Heimat stillt. „Wenn ich die Leipziger Straße entlanglaufe, habe ich das Gefühl, als ob ich Moskau nie verlassen hätte“, sagt er. Die Plattenbauten aus DDR-Zeiten in der Leipziger Straße in Berlin-Mitte erinnern ihn an den Arbat, das Stadtzentrum der russischen Megapolis.

Seit knapp drei Monaten lebt der 28-jährige studierte Mathematiker in Berlin. Auch für Mirsky war es ein Schock, als sein Land am 24. Februar den Angriffskrieg gegen die Ukraine begann. Er zögerte keinen Moment, Russland so schnell wie möglich zu verlassen. Das Schengen-Visum in seinem russischen Pass ermöglichte es ihm, sofort dorthin zu fliegen, wo seine Freunde auf ihn warteten und ihm eine Unterkunft anbieten konnten – nach Berlin. Mit dem Visum kann er sich 90 Tage in Deutschland aufhalten. Hat Mirsky Angst, dass er auch zur Armee eingezogen werden könnte, wenn das Vaterland nach ihm ruft? Bisher habe er nicht daran gedacht, meint er. Die Gefahr bleibe aber, solange der Krieg in der Ukraine dauere. Einige seiner Bekannten hätten mittlerweile eine schriftliche Vorladung zum Militärkommissariat bekommen. Zudem hat das russische Parlament Ende Mai die Altersgrenze für den Militärdienst abgeschafft. Bislang konnten nur Männer zwischen 18 und 40 Jahren zur Armee eingezogen werden. Jetzt können auch Freiwillige, die das gesetzliche Rentenalter (61,5 Jahre) noch nicht erreicht haben, in die Armee eintreten.

Treffpunkt Dachterrasse

Mirsky ist gegen die Militarisierung. In Berlin geht er auf Demonstrationen gegen den Krieg. Doch stört es ihn, wenn auf Kundgebungen die „russische Kultur“ angegriffen wird. Er kritisiert die Haltung der EU, die russische Bürger:innen zu Ausgestoßenen mache. „Die EU hat die Menschen in Russland mit ihren Problemen alleingelassen und vor der Gesetzlosigkeit und den Menschenrechtsverletzungen häufig die Augen zugemacht, weil Russland Öl- und Gaslieferant war“, sagt er und bleibt einen Augenblick stehen. „Auch 2014, als Russland die Krim annektiert hat, waren die Forderungen aus Brüssel zu mild. Die EU ist nicht vom Wort zur Tat geschritten“, sagt er und wünscht sich, die EU hätte schon vor Jahren ein Handelsembargo gegen Russland verhängt.

Russophobie habe er in Berlin nicht erlebt. Doch fühle er sich als „Mensch zweiter Klasse“. Seine Bewerbungen bei einigen deutschen Unternehmen wurden nicht berücksichtigt. Seinen Job als Produktleiter in einer russischen Privatbank gibt er im Juni auf und sein Portemonnaie wird langsam leer. Ihm bleibt kein anderer Weg, als Berlin zu verlassen. In der estnischen Hauptstadt Tallinn hat er einen Job gefunden als Broker für Aktien und Kryptowährung auf dem baltischen Finanzmarkt. Die baltischen Staaten gehen den einfachen Weg, wenn es um den Aufenthalt russischer Oppositioneller geht. Journalist:innen der russischen unabhängigen Medien wie Meduza und Novaja Gazeta arbeiten heutzutage im Exil in Lettland, und das Nachbarland Litauen ist längst zum zentralen Exilort der belarussischen Opposition geworden.

Aleksey Mirsky

Foto: Tigran Petrosyan

Solange das Regime unter Präsident Wladimir Putin im Kreml herrscht, werden die Fluchtwege aus Russland immer enger und schwieriger. So auch in Richtung Berlin: zahlreiche russische oppositionelle Politiker:innen, Aktivist:innen und Journalist:innen fliehen vor den Repressionen in die deutsche Hauptstadt.

Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien im Kanzleramt, nannte sie im Spiegel „Fachkräfte der Demokratie“. Wie die Bundesregierung sie aufenthaltsrechtlich behandeln will, war lange unklar. Nun soll es für Gefährdete, etwa Oppositionelle, Einzelfall-Regelungen und beschleunigte Verfahren, allerdings auch Überprüfungen durch die Sicherheitsbehörden geben. Roth, das Innenministerium sowie das Auswärtige Amt sind an dem Procedere beteiligt. Für bestimmte Zwecke, etwa die Aufnahme einer Arbeit in Berlin, ist es weiter nötig, ein Visum zu beantragen.

Zahlreiche russische Exil-Journalist:innen, aber auch Menschenrechtsaktivist:innen und einfache russische Bürger:innen, die sich gegen den Krieg positionieren, haben sich ins deutsche Exil gerettet. Allein mehr als 100 der neu Angekommenen organisieren sich in einer geschlossenen Chat-Gruppe auf einem Telegramkanal. Eine Einzimmerwohnung im Stadtteil Friedrichshain ist zum Treffpunkt für diese Menschen geworden. Eine kleine Bude mit einem Bett und einem Tisch, aber mit einer riesigen Dachterrasse im Hinterhof. Es wird viel geraucht, nicht zuletzt wegen der aussichtslosen Situation.

Der 32-jährige Dima Warlamow zündet sich eine Zigarette nach der anderen an. „Es war mir klar, meine Zeit ist gekommen“, sagt der Journalist aus Moskau. Er arbeitete bei dem unabhängigen Medium Doschd. Am 1. März drehte das Fernsehteam fürs Abendprogramm, ohne jedoch zu wissen, dass die Behörden die Website von Doschd bereits blockiert hatten. Am Abend gegen 23 Uhr rief der Vermieter des Studios an und teilte mit, dass die russischen Polizeikräfte gleich eintreffen würden. Das ganze Fernsehteam hatte nur wenige Minuten, um seine Haut zu retten.

„Ich hatte Angst, in dieser Nacht nach Hause zu gehen“, erzählt Warlamow. „Ich bin erst zu meinen Freunden gegangen, dann nach Hause, um meinen Pass zu holen und mich direkt auf den Weg zum Flughafen zu machen.“

Foto: Tigran Petrosyan

Warlamow konnte nach Istanbul fliegen. Dort lebte er etwa 1,5 Monate. Er wollte nach Berlin, aber es gab keine Chance, bei der deutschen Botschaft ein Visum zu erhalten. Das Konsulat eines anderen EU-Landes in Istanbul half den russischen Journalist:innen, ein dreimonatiges Schengen-Visum zu bekommen – das Land soll hier aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden. Nun lebt Warlamow seit einem Monat in Berlin.

Damals dachte er, in Berlin fände er schnell einen Job. Doch anders als in Istanbul, wo er für eine Mitarbeit bei türkischen Medien sein Honorar in bar erhalten hatte, gab es in Berlin keine legalen Wege für einen Job. „Man braucht ein Arbeitsvisum, um einen Job zu finden. Hat man keinen Job, bekommt man kein Visum“, sagt er.

Die Berliner Organisation Media in Cooperation and Transition (MiCT) vergibt temporär Stipendien über 1.000 Euro. „Berlin ist eine demokratische Stadt und hier fühle ich mich sehr wohl. Es stört niemanden, wie ich aussehe, was ich anhabe oder ob ich auf der Wiese liege mit einer Flasche Bier“, sagt Warlamow und zeigt auf das Loch in seinem Pullover.

Es gibt kein Zurück

Für ihn gibt es kein Zurück. „Ich bin Journalist und wenn ich meinen Mund wieder aufmache, dann droht mir eine mehrjährige Haftstrafe.“ Auch wenn der Krieg bald enden würde. „Jeder Tag zählt für die Ukrainer:innen, aber nicht für uns Russ:innen“, sagt er. „Putin kann es sich erlauben, den Krieg sogar zu verlieren, weil er auch in diesem Fall weiter an der Macht bleiben wird.“ Er nimmt einen Zug an seiner Zigarette, dann einen zweiten, schaut auf den Horizont, wo sich die Regenwolken zusammenziehen. Er blinzelt mit den Augen, während die Sonne wärmend auf sein Gesicht scheint, und wiederholt fast resigniert: „Trotzdem, ich bin ein Pessimist.“

Die Türklingel ist im Dauerbetrieb. Immer mehr Menschen strömen herein. Auf der Dachterrasse haben sich kleine Gruppen gebildet. Rund um den kleinen Tisch in der Wohnung naschen einige Erdbeeren, Käse mit Wurst und Sauerkraut. Wird es eine Generalmobilisierung der Zivilbevölkerung in Russland geben? Wie viele Soldaten sind bis jetzt im Krieg gestorben und wie viele werden noch ihr Leben an der Front verlieren? Wo kann man in Berlin das 9-Euro-Ticket kaufen? Wo kann man Wäsche waschen? Möbelstücke? Unterkunft?

Und letztendlich, was ist mit einer sicheren Bleibeperspektive?

Das fragt sich Olga Galkina ständig. Es war die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die sie und ihren Mann mit zwei Kleinkindern nach Berlin holte. Was allerdings genau nach dem Ablauf ihrer 90-tägigen Aufenthaltsfrist in einigen Wochen passiert, ist ihr unklar. Galkina ist alarmiert. „Was passiert mit uns?“, fragt sie. Die Antwort sucht sie bei Rechtsanwält:innen in Berlin.

Für die 41-jährige ehemalige Abgeordnete aus St. Petersburg ist eine Rückkehr ausgeschlossen. „Zu Hause kann ich nicht in Freiheit leben, weil mir eine strafrechtliche Verfolgung droht“, sagt Galkina. Sie gehörte zu den mutigen Menschen in St. Petersburg, die gegen den russischen Krieg demonstrierten. Sie steht an der Seite der russischen Oppositionspolitiker und Kremlkritiker wie Michail Chodorkowski und Alexei Navalny. Und sie saß im Stadtparlament für die oppositionelle linksliberale „Russische Demokratische Partei Jabloko“.

Foto: Tigran Petrosyan

Als Beamtin, die sich gegen den Krieg stellte, wurde sie bei der Arbeit mehrmals verwarnt, erzählt sie. Sie solle schweigen, wurde ihr gesagt. Doch sie wurde immer lauter. Auf einer Kundgebung in ihrer Stadt wurde sie festgenommen. Nach rund sieben Stunden auf der Polizeistation wurde sie freigelassen. „Mit allen Mitteln rächt sich die Regierung an politischen Aktivist:innen, um die Gesellschaft einzuschüchtern“, sagt Galkina.

Anfang März 2022 kam ein Spezialeinsatzkommando der russischen Nationalgarde zu ihr nach Hause in Masken und mit Waffen, erzählt sie, und führte vor den Augen der Kinder eine Hausdurchsuchung durch. „Zum Zeitpunkt meiner Abreise aus Russland war ich immer noch Zeugin in einem Terrorismusfall und es war nur die Frage der Zeit, bis ich von einer Zeugin in einen Täterin verwandelt und für zehn Jahre hinter Gittern gesperrt werden würde“, sagt sie.

Die Bundesregierung solle die Frage nach einer Bleibeperspektive für russische Oppositionelle im deutschen Exil langfristig lösen. „Keine von uns hat jemanden getötet, keiner von uns hat gestohlen und keine von uns hat betrogen. Wir sind Repressionen in unserer Heimat ausgesetzt nur wegen unserer politischen Haltung. Weil wir Nein zum Krieg sagen.“

Galkina fordert eine strukturelle Lösung für die politischen Flüchtlinge aus Russland. Notfalls werde sie „ein Zelt vor dem Bundestag aufschlagen und in einen Hungerstreik treten, weil ich wirklich Hilfe für mich und meine Familie brauche. Eine von uns muss den ersten Schritt auf diesem Weg gehen“.

Tigran Petrosyan arbeitet als freier Autor in Berlin. Er hat in Jerewan, Mainz sowie Berlin Orientalistik studiert und zweifach promoviert

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