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Russland | Der russische Selenskyj


Link [2022-05-21 23:13:39]



Ein neuer Dokumentarfilm zeigt den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny als einen Politiker, der alles vom Ende her denkt

Das ist ein Film aus einer anderen Zeit. Seit gut einem Jahr sitzt der einzige russische Oppositionspolitiker, dem man zugetraut hat, Putin zu besiegen, in einer Strafkolonie in Zentralrussland. Im Februar 2022 wurde Alexei Anatoljewitsch Nawalny zu weiteren neun Jahren Haft verurteilt, unter schärferen Haftbedingungen. Im März forderte er dennoch aus dem Gefängnis seine Landsleute auf, gegen den sinnlosen Krieg in der Ukraine zu protestieren. Seither hat er sich öffentlich nicht mehr zu Wort gemeldet.

Der Film basiert auf Gesprächen, die der kanadische Filmemacher Daniel Roher mit Nawalny in einem kleinen Ort im Schwarzwald geführt hat, wo sich der 1976 in Butyn bei Moskau geborene Russe von einem Anschlag erholte, den der Inlandsgeheimdienst FSB auf ihn verübt hatte. Im Flug von Tomsk nach Moskau hatte Nawalny am 20. August 2020 das Bewusstsein verloren, wurde nach einer Notlandung in Omsk in einer Klinik behandelt und dann nach Berlin ausgeflogen, wo das Nervengift Nowitschok festgestellt wurde. Der Anschlag ist das Schlüsselereignis in dieser Dokumentation, die auf reichhaltiges Material auch von diversen sozialen Medien zurückgreifen kann, sogar der Zusammenbruch im Flugzeug ist dokumentiert.

Es lohnt sich den Einstieg zu zitieren. Nawalny sitzt in einem leeren Schwarzwälder Gasthaus mit heruntergelassenen Jalousien, blickt mit stahlblauen Augen in die Kamera, aus dem Off fragt ihn Roher. „Du magst diese Frage hassen, aber welche Botschaft wirst du dem russischen Volk hinterlassen, wenn du getötet wirst?“ Nawalny spielt den Genervten, antwortet auf Englisch mit Akzent: „Ach, Daniel, machst du etwa einen Film für den Fall meines Todes? Ich bin bereit, deine Frage zu beantworten, aber in Film Nummer zwei. Aus diesem Film hier lass uns einen Thriller machen. Und sollte ich gekillt werden, dann lass uns einen langweiligen Nachruf daraus machen.“

Nawalny denkt alles von seiner Wirkung her, will, gewiss ironisch, sein öffentliches Bild noch nach seinem Tod kontrollieren. Mit dem Superhelden-Image kann er deshalb kokettieren, weil seine Kräfte in der Tat außerordentlich scheinen. Nicht nur hat er das Attentat mit dem hochgiftigen Nowitschok überlebt, es gelingt ihm sogar, den Anschlag aufzuklären; mithilfe des bulgarischen Bellingcat-Investigators Christo Grozev finden sie die Identität der Attentäter heraus, dann hat Nawalny die Idee, die Gangster einfach anzurufen und mal nachzufragen ...

Nawalny ist ein Familienunternehmen

Einmal mehr hat Nawalny seinem ewigen Feind eine lange Nase gedreht, denn der hatte behauptet, „dieser Patient“ (Putin nennt Nawalny nie beim Namen) sei eine Marionette der CIA. Antwort Nawalny: „Seine Lieblingsantwort auf alles: Es war die CIA.“ Nawalnys Frau neben ihm lacht. Man schaut gerne zu, denkt sich, das sind Leute, die ihre Tassen im Schrank haben, und hat wenig Fragen.

Aber natürlich stellen sich solche; Nawalny ist als junger Redner mit nationalistischen und chauvinistischen Sprüchen laut geworden. Der Film streift das Thema nur, für Nawalny ist es Vergangenheit, der Kampf gegen die Korruption sei schon damals das eigentliche Ziel gewesen, außerdem müsse man verschiedene Leute ansprechen, wenn man die Macht erlangen will. Mag sein.

Eine Freundin, die sich mit Russland auskennt, zog den Vergleich von Nawalny zu Boris Palmer. Ein wenig ein Freak, basisdemokratisch auf der einen Seite, andererseits mit einem Hang zu politischen Unkorrektheiten (die er allerdings nicht mehr von sich gibt). Nawalny ist jedoch medientauglicher als Palmer. Populär wurde er durch Youtube. Der Film zeigt, wie er mit seiner Tochter ein Filmchen produziert. Nawalny ist ein Familienunternehmen, seine Frau Julia kommt viel zu Wort, ist Teil des Teams und Gefährtin. Wir sehen eine gute russische Familie, kein Alkohol, die Ausbildung der Kinder ist wichtig, die Tochter studiert in Stanford, er gelernter Rechtsanwalt, sie Ökonomin. Alexei Nawalny verkörpert das modere, urbane Russland, das es eben auch gibt. Aber dieses Russland ist anders als er nicht besonders mutig. Durch seinen Mut wurde er auch für andere Schichten zum Helden, selbst im Apparat sitzen seine Fans, es ist ein Mut, das sollte man nicht unterschätzen, der mit einem entwaffnenden Lachen daherkommt. Nawalny lacht sogar bei seiner Verhaftung am Flughafen in Moskau – und verkörpert so das Gegenbild zum grimmigen, aggressiven Kreml.

Aber natürlich ist er nicht alleine. Aus seinem Team sticht Maria Pewtschich hervor; die Chefin seiner Antikorruptionsstiftung lacht übrigens nie. Zusammen bilden sie eine „Verschwörung der anständigen Leute“, die sich nicht nur für moralischer, sondern auch für klüger hält als die Silowikis im Kreml. Nawalny erzählt von „Moskau 4“: „Der Mail-Account des Geheimdienstchefs wurde viermal gehackt. Das erste Passwort war Moskau 1. Sie hackten ihn wieder. Das Passwort war Moskau 2. Sie hackten ihn wieder. Das Passwort war Moskau 3. Jetzt rate mal, wie das Passwort beim vierten Mal lautete.“

Wer finanziert eigentlich diese „Verschwörung der anständigen Leute“? Davon erfährt man in der Doku nichts, aber natürlich sind da Mäzene: Über einen, den Yandex-Manager Roman Iwanow, spricht Nawalny mit dem populären Youtube-Interviewer Yuri Dud, die Folge sei hier empfohlen. Denn nicht nur in seiner Finanzierung, nicht nur in seiner westlichen Familienausrichtung, vor allem auch in seinem professionellen Umgang mit den neuen Medien ähnelt Nawalny einem Mann: Wolodymyr Selenskyj.

In einer besseren Welt würden sie zusammen einen wahnsinnig komischen Film machen, ob das in der Rolle der Präsidenten ihrer Länder sein muss, sei mal dahingestellt.

Info

Nawalny Daniel Roher USA 2022, 98 Minuten

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



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