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Roman | ReJoyce in Bloomusalem: Vor 100 Jahren ist Ulysses erschienen


Link [2022-06-17 22:31:23]



Die Iren lieben James Joyce heißblütig. Am alljährlichen „Bloomsday“ feiern sie ihn und sein Werk in den Pubs und Straßen von Dublin. Auch Autor Bernhard Malkmus ist ein großer Fan

James Joyce liebte Opernmusik und war ebenso der leichten Muse zugetan. Operette und music hall bevölkerten seine Einbildungskraft. Wo auch immer er konnte, ließ er seinen schönen lyrischen Tenor erklingen. Eine alte Schellackplatte zeugt davon. Aus dem Jenseits, klar und heiter, stimmt Joyce da sein Spätwerk Finnegans Wake an. Von Möwen erzählt er, von der Erinnerung und von der Unentrinnbarkeit der Geschichte. Und dann scheint er sich im Singsang zu verabschieden aus der Welt der Sprache. An den schönsten Stellen des Finnegans Wake wird Sprache zu reinem Klang und Rhythmus.

Das Fortleben der Stimme im technischen Medium hatte Joyce schon immer fasziniert. Im Roman Ulysses spielt er bereits ironisch mit dieser Vorstellung. Leopold Bloom, irischer Jude, Annoncenakquisiteur und Jedermannfigur, stellt sich während der Beerdigung eines Bekannten vor, Verstorbene vermittels eines Plattenspielers in die Gegenwart holen zu können: “Naja, die Stimme, ja: Grammophon. Ein Grammophon auf jedem Grab haben oder in jedem Haus. Nach dem Abendessen sonntags. Lasst uns den guten alten Großvater auflegen. Kraahraark! Hellohellohello amawfullyglad kraark awfullygladaseeragain hellohello amarawf kopthsth. Erinnert einen an die Stimme, so wie ein Foto einen ans Gesicht erinnert.“Der Ulysses ist durchgeistert von solchen Stimmen. Doch es sind nur die Kratzer der Ironie, die den Leser daran gemahnen, dass diese Vergangenheit auch wirklich vergangen ist, so unmittelbar wird die Leserschaft durch die Vielfalt der Sprachregister in die Welt Dublins im Jahre 1904 katapultiert. Das Rattern der Straßenbahnen, die Fiebrigkeit einer modernen Zeitungsredaktion und die kolonialen Konflikte im britischen Irland der Jahrhundertwende werden zum Greifen lebendig. Die Geburt eines Kindes schlägt sich direkt in der Sprache nieder, wird als virtuoser Durchlauf durch die Geschichte der englischen Sprache von der Heldenepik bis zur Jugendsprache Dublins nachgezeichnet. Ontogenese als Sprachgenese.

Ulysses ist die originellste Liebesgabe der Weltliteratur

Am 16. Juni 1904, traf sich James Joyce am Dubliner Hafen zu einem Spaziergang mit seiner späteren Frau Nora Barnacle, nachdem sie ihn zwei Tage zuvor versetzt hatte. ‘Barnacle’ bedeutet Miesmuschel, und als Joyces Vater von Noras Namen erfuhr, meinte er: „Sie wird ihn niemals verlassen.“ Womit er recht behalten sollte. Nora begleitete den rastlosen, halbblinden Homer der Moderne auf seinen Irrfahrten durch ganz Europa. In Triest beginnt er 1914 mit der Niederschrift des Ulysses, den er an jenem Junitag spielen lässt und der als originellste Liebesgabe in die Weltliteratur eingehen wird. Während des Ersten Weltkrieges leben sie in Zürich. Es sind seine produktivsten Jahre. Nach dem Krieg siedelt die mittlerweile vierköpfige Familie nach Paris über, wo er das Werk verlegen möchte. Vor hundert Jahren, am 2. Februar 1922, seinem vierzigsten Geburtstag, kleidet Joyce sich in die griechischen Nationalfarben Blau und Weiß und promeniert am linken Seineufer entlang ins Quartier Latin zur legendären Buchhandlung „Shakespeare & Company“ von Sylvia Beach. Auch Harriet Beecher-Stowe ist anwesend, Joyces Mäzenin, ohne die er auf halber Strecke hätte aufgeben müssen. Aus ihren Händen nimmt er ein Buch mit blauem Schutzumschlag und weißer Aufschrift in Empfang: Ulysses. Die Odyssee der Neuzeit ist geboren. Sie ist voller Druckfehler, denn die Setzer waren des Englischen nicht mächtig.In diesem epochalen Werk lässt Joyce sein Alter Ego, einen mittellosen Studenten namens Stephen Dedalus, den Jedermann Leopold Bloom und dessen Frau Molly ihren Alltag bestreiten. Sie suchen sich, begegnen sich, vermeiden sich. So richtig alltäglicher Alltag ist dieser Tag dennoch nicht, denn Bloom ist sich den ganzen Tag über dessen bewusst, dass er am Nachmittag von seiner Frau betrogen werden wird. Und Stephen hat seine Stelle als Hilfslehrer gekündigt und wird in Bloom eine Art Ersatzvater suchen.

Die Allgegenwart der mythologischen Bezüge zur homerischen Odyssee bewirkt eine ständige Brechung zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen kollektivem und individuellem Gedächtnis. So zeichnet sich Bloom als moderner Odysseus zwar durch einen gewissen Listenreichtum aus und navigiert mit bewundernswerter Sicherheit durch die moderne Großstadt, doch ist sein Leben geprägt von Sterilität und Leerlauf. Auch Molly als Penelope reicht in keiner Weise an die Größe ihrer mythischen Vorgängerin heran. Ihrem Freier gibt sie sich vorbehaltlos hin. Ihr Odysseus hat nach den Fährnissen des Tages weder Kraft noch Mut zu einer Konfrontation – ein „Dulder“ wohl, wie es die klassische Homerübersetzung durch Voss will, aber eben auch im negativen Sinne: ein Duckmäuser.

„Bloomsday“ in Dublin jedes Jahr am 16. Juni

Bloom ist lebensklug, doch kein Tatmensch. Zu seiner Feier finden sich aber ausgesprochene Tatmenschen zusammen und stellen Dublin am 16. Juni auf den Kopf. Als sich vier Schriftsteller 1954 in „Davy Byrne’s“ trafen, um die ganze Sache auszuhecken, war der Ulysses in Dublin nur unter der Ladentheke erhältlich und sein Autor eine persona non grata in seiner Heimat. „Bloomsday“ tauften sie das Spektakel, das mittlerweile einen stark kommerziellen Charakter hat. Zu tausenden strömen Besucher aus aller Herren Länder an die Liffey. Mittlerweile ist das Ganze ein bunter Reigen aus akademischen Lesungen, literarischen Spaziergängen und Schauspiel.

Jeder kommt hier auf seinen Geschmack: Joyce-Experten werfen sich gegenseitig in einer Vortragsreihe die neuesten Fehdehandschuhe zu, das Dubliner Jüdische Museum beleuchtet die Geschichte von Blooms jüdischen Glaubensgenossen, das James Joyce Cultural Centre veranstaltet traditionellerweise ein Frühstück – inklusive gebratener „schwach nach Urin duftender Nieren“, wie es sich Bloom im vierten Kapitel zubereitet. Daneben gibt es Workshops für Kinder, eine Bootsregatta und ein Radrennen. Leopold Bloom wäre dankbar gewesen für so viel Ablenkung davon, dass ihm gerade Hörner aufgesetzt werden. Die ganze Stadt ist voller Schauspielertruppen, die Szenen aus Ulysses an den jeweiligen historischen Orten aufführen. Am Abend hat dann Molly Bloom das Wort. Ihr berühmter Schlussmonolog wird in Pubs gespielt, gemurmelt, geräkelt. Wir erfahren, dass Leopold seine Niere am Morgen hat anbraten lassen und dass das Ehepaar sich das Ehebett seit vielen Jahren auf seltsame Weise teilt: Er bettet seinen Kopf neben ihre Füße. Außerdem vieles mehr über Dublin und ihren ersten Kuss unter Rhododendron auf der Halbinsel Howth, lange Ehejahre und den Tod ihres Sohnes Rudy in der Wiege. Ihr Bewusstseinsstrom fließt dahin wie Joyces Stimme auf dem Grammophon, wenn er von Möwen singt und Kindheit und Rückkehr: „A gull. Gulls. Far calls. Coming, far! End here. Us then. Finn, again! Take. Bussoftlhee, mememormee! Till thousendsthee. Llps. The keys to. Given! A way a lone a last a loved a long the –“Bei aller Vielschichtigkeit des Ulysses bleibt das Leitmotiv der Liebe allgegenwärtig. Es wurzelt in der Begegnung zwischen einem jungen Mädchen aus Galway und einem hochbegabten, minderbemittelten jungen Schriftsteller an einem sonnigen Sommertag am Dubliner Hafen. Geschrieben steht davon kein Wort im Roman. Doch er kündet davon wie die Möwen von der Kindheit – und wie die Stimme Joyces auf dem Grammophon von dem unerschütterlichen Vertrauen in eine Sprache jenseits der Sprachen, ein Jerusalem jenseits von Babel. Aber mit solchen wohlfeilen Gemeinplätzen wüsste der Spaßvogel Joyce nun gar nichts anzufangen. Deswegen heißt es im Roman auch „Bloomusalem“. Und Babylon findet für Joyce sowieso in unser aller Bewusstsein statt. Täglich, stündlich, sekündlich. Ein Text zum Wiederlesen, eine Partitur zum Wiederanstimmen, ein Ereignis zum Feiern. Rejoice! ReJoyce!

Bernhard Malkmus arbeitet als Literatur- und Kulturwissenschaftler an der Newcastle University in Nordengland. Derzeit forscht er als Humboldt-Gastwissenschaftler an der Goethe-Universität Frankfurt an einem Projekt über die Große Beschleunigung und geologische Narrative in der Literatur

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