Politics >> Der Freitag


Revenge Porn | Racheporno


Link [2022-02-02 15:14:28]



Auf Websites wie „AnonIB“ handeln Männer mit Nacktbildern ahnungsloser Frauen und Mädchen. In Großbritannien schützt sie eine Gesetzeslücke vor der Strafverfolgung

Ruby wird nie vergessen, wie es war, als sie das erste Mal die Online-Plattform AnonIB besucht hat. Das ist eine sogenannte „Racheporno“-Website. Eine Freundin hatte sie per SMS um Hilfe gebeten, weil Ruby es als Lehrerin gewohnt ist, Jugendlichen zur Seite zu stehen. „Ich konnte nicht glauben, was ich da sah!“, sagt die 29-Jährige heute.

AnonIB war nach Ländern sortiert. Die meisten Einträge gab es in den USA, gefolgt von Großbritannien. Es wurde spezifisch unterteilt in Regionen und Städte. Zu Rubys britischem Wohnort, der 55.000 Einwohner hat, gab es 16 Seiten mit intimen Fotos von Frauen und Mädchen. In Kommentaren teilten lokale Nutzer alle möglichen Informationen zu deren Identität: Vorname, Nachname, Schule, Verwandte. Dazu gab es zahlreiche „Anfragen“ nach Bildern bestimmter Frauen: „Es muss doch noch mehr Fotos von dieser Nutte geben.“ Oder: „Jetzt kann ich ihrem Freund mit dem Wissen in die Augen gucken, dass ich seine Freundin nackt gesehen habe.“ Vier Monate nachdem sie die Webseite entdeckt hatte, tauchten plötzlich auch Bilder von Ruby in dem Netzwerk auf.

In den vergangenen Jahren hat AnonIB ständig den Namen geändert: Mal hieß es „Image Board“, dann „Anonymous“. Zwar wurde die Webseite schon mal von der niederländischen Polizei abgeschaltet. Doch derzeit wird sie von einer russischen Firma gehostet. Vor einigen Monaten wurde sogar eine Paywall eingeführt.

Die Seite ist nur eines von vielen Beispielen dafür, was der kürzlich erschienene Bericht der britischen Revenge Porn Helpline (RPH) als „collector culture“ bezeichnet. Das lässt sich mit „Sammelkultur“ übersetzen und meint das Posten, Vergleichen und Handeln mit intimen Fotos von weiblichen Personen. „Frauen sind Preise, die herumgereicht, geteilt und gehandelt werden wie eine dystopische Version von Pokémon“, erklärt Zara Roddis, leitende Mitarbeiterin bei RPH. „Oft wissen wir nicht, woher diese Leute die Fotos überhaupt haben; es können Ex-Freunde, Bekannte oder Hacker dahinterstecken.“ Auch auf anderen Plattformen wie Mega, Dropbox, Discord oder Reddit ist das Phänomen zu beobachten. Dort posten anonyme Nutzer Bilder von (vermutlich unwissenden) Frauen mit Unterschriften wie: „Verkaufe/tausche Nacktfotos von meinem Girlfriend“. Auch „Blowjob-Videos“ werden angeboten.

Eine Studie über den Missbrauch von Intimbildern in Australien, Neuseeland und Großbritannien zeigt, dass jeder fünfte Mann sich dessen schon mal schuldig gemacht hat. Die Zahlen zeigen auch, dass Frauen fünfmal häufiger als Männer von der Weitergabe intimer Bilder betroffen sind. Während des Corona-Lockdowns, als Online-Aktivitäten die Interaktionen im realen Leben ersetzten, verdoppelten sich die Hilferufe, die bei RPH eingingen.

Der Polizist muss gähnen

Nach Paragraf 33 des Criminal Justice and Courts Act von 2015 ist es illegal, „private sexuelle Fotos und Filme mit der Absicht zu veröffentlichen, Leid zuzufügen“. Die Rechtssoziologin Nicola Henry von der RMIT University in Melbourne hat die Motive der Täter untersucht. Dafür nahm sie 77 Plattformen, Bilderforen, Communitys und Blogging-Seiten, auf denen Bilder geteilt und gehandelt werden, unter die Lupe und befragte auch Täter. „Obwohl die Medien die Rache gegen Ex-Partner:innen als Hauptmotivation in den Mittelpunkt rücken, sind sexuelle Befriedigung oder der Wunsch, andere online zu beeindrucken, häufiger“, berichtet sie. Ein Täter, den sie interviewte, habe ihr gesagt: „Es hatte ein bisschen was von Angeben.“

Ein ehemaliger Schulkamerad von Ruby wies sie auf die Fotos von ihr hin, die auf AnonIB waren. Die Bilder wurden aufgenommen, als sie 17 Jahre alt und mit Freundinnen im Urlaub war. Auf einem der Fotos hat sie einen Sonnenbrand und liegt ohne Top auf dem Bauch, während eine Freundin ihr Creme auf den Rücken schmiert. Auf dem anderen demonstriert sie die Größe der Hotel-Handtücher, die nicht groß genug sind, um ihren ganzen Körper zu bedecken. Als Lehrerin war sie dazu verpflichtet, ihren Arbeitgeber über die Veröffentlichung der Bilder zu informieren. Bis heute hat sie keine Ahnung, ob ihre Schüler:innen die Fotos gesehen haben. Ruby entschloss sich dazu, eine Whatsapp-Gruppe für andere Opfer in der Kleinstadt zu gründen. „Für einige von ihnen war es viel schlimmer“, berichtet sie. „Ihre Bilder waren eindeutiger. Es waren auch Schwangere darunter, die so verstört waren, dass sie sofort ins Krankenhaus mussten.“

Unterstützung durch das Gesetz haben Ruby und die anderen nicht erfahren. Sie zeigte ihren Fall bei der Polizei an, die ihr ein Straftat-Aktenzeichen zuteilte und sie an eine Opferhilfe-Stelle verwies. Andere in der Gruppe hörten gar nichts. Bei einer Betroffenen habe der Polizeibeamte sogar gegähnt und gesagt, das sei die zwanzigste AnonIB-Anzeige an diesem Tag. Erst nach viel kollektivem Druck wurden ihre Fälle als „Cyber-Verbrechen“ an die regionale Einheit für organisiertes Verbrechen weitergeleitet. Doch seitdem herrscht wieder Funkstille. Dabei seien manche Täter nur einen Katzensprung entfernt. „Einige der Bilder waren Facetime-Bildschirmaufnahmen“, erzählt Ruby. „Das Bild des Anrufers in der Ecke war deutlich zu sehen. Wir haben mindestens zwei Männer eindeutig identifiziert. Wir wissen, wer sie sind und wo sie wohnen, und gaben das an die Polizei weiter – aber sie haben nicht einmal bei denen an die Tür geklopft.“

Der 28-jährigen Helen kommt es so vor, als sei sie eine völlig andere, seitdem Intimbilder von ihr in einem verschlüsselten Chatroom veröffentlicht wurden. Im Frühling vor zwei Jahren erhielt sie einen anonymen Tipp auf ihrem Facebook-Account, dass freizügige Fotos von ihr in einem Google-Drive-Ordner gesammelt und online gepostet wurden. Die Bilder waren im Laufe einer fünfjährigen Beziehung entstanden, die zwei Jahre zuvor zu Ende gegangen war. „Mein Ex hatte mir versichert, dass sie alle gelöscht sind“, sagt Helen.

Miese Lücke im Gesetz

Nachdem sie von den Fotos erfahren hatte, schickte der Ex-Freund ihr eine Nachricht, in der er offen zugab, dass er für die Veröffentlichung der Bilder verantwortlich sei. Er habe sie „aber nie verletzen wollen“, fügte er hinzu, sondern es nur für den „Kick“ getan. „So schmerzhaft das auch war, ich war froh, ein Geständnis zu haben, mit dem die Polizei arbeiten konnte“, erinnert sich Helen. „Aber dann stellte sich heraus, dass gerade seine Behauptung, dass er mich nicht verletzen wollte, ihn vor strafrechtlicher Verfolgung schützt.“ Eine Gesetzeslücke, die auch Ruby kritisiert. „Die Täter haben viele Möglichkeiten, sich zu verteidigen“, sagt sie. Die müssten einfach solche Sachen sagen wie: „Es war nur zum Spaß und ich dachte, sie würde es nicht sehen.“ Oder: „Ich hab zehn Pfund dafür bekommen, Bilder von jungen Frauen aus dem Viertel hochzuladen.“ Das Gesetz würde sogar „sexuelle Befriedigung“ als Begründung akzeptieren und nur jene Männer verurteilen, deren erklärte Absicht das Leiden ihrer Opfer ist. Doch es gibt Anzeichen, dass sich die juristischen Rahmenbedingungen in Großbritannien bald ändern werden. Die Überprüfung der Gesetze zum Missbrauch intimer Bilder durch die Rechtskommission läuft seit 2019. Es wird erwartet, dass ihr für den Frühling angekündigter Bericht darauf hinausläuft, „nicht einvernehmliches Teilen“ zu einer Straftat zu machen.

Unterm Strich ist sich Ruby nicht sicher, ob es besser ist, wenn man über die Fotos Bescheid weiß, die von einem online sind. Und die von Freunden oder Fremden weitergegeben, getauscht, geteilt, gesammelt und kommentiert werden. „Das ist eine schwierige Frage“, sagt sie. „In dem AnonIB-Thread für unsere Stadt gibt es Mädchen, die ich kenne, aber nicht mehr gesprochen habe, seit ich 16 war.“ Man spüre zwar eine moralische Verpflichtung. „Aber soll ich ihnen davon erzählen, auch wenn klar ist, dass eine Anzeige nichts bewirkt? Ich habe für mich beschlossen, ihr Leben besser nicht aus dem Tritt zu bringen.“ Manchmal sei Unwissenheit eben doch ein Segen.

Die Namen der Betroffenen wurden geändert

Anna Moore schreibt für den Guardian

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



Most Read

2024-09-20 15:00:52