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Reichtum | Die Zeit ist reif für eine Erbschaftssteuer in Höhe von 100 Prozent


Link [2022-05-25 08:39:04]



Deutschland ist eine Steueroase für Erben. Der Ökonom Guy Kirsch hat einen radikalen Gegenvorschlag. Richtig so!

Wer heute Nacht ohne das Wissen um nennenswerte Ersparnisse schlafen gehen und morgen plötzlich und unerwartet eine Million Euro auf seinem Konto entdecken würde, dem erschiene das Geld bald als naturgegeben. Klar, anfangs wären Staunen, Leugnen, Rätselraten. Doch dann ginge es ans Ausgeben, immer verbunden mit der Macht zu entscheiden, wer von diesem Geld etwas abhaben dürfte. Wenn dann jemand käme, zum Beispiel der Staat mit einer Steuer, und würde einen Teil des Vermögens beanspruchen, dann käme der überraschend vermögenden Person dies vor wie ein Diebstahl. Ziemlich sicher würde sie mithilfe teurer Anwälte oder sogar roher Gewalt dagegen vorgehen.

Ist das zu weit hergeholt? Ganz und gar nicht. Denn genau so ist es, wenn jemand Vermögen oder Kapital erbt. Meist braucht es für diese Erkenntnis ein gewisses Alter. Im Studium machen sich die ökonomischen Unterschiede wenig bemerkbar, weil viele nach dem Abitur umgezogen sind und die Herkunft kein Thema ist. Doch ein paar Jahre nach der Uni-Zeit lässt sich dann in jedem Bekanntenkreis das gleiche beobachten: Manche kaufen Wohnungen und Häuser, obwohl auch sie jahrelang mit Zeitverträgen und miesen Löhnen abgespeist wurden oder werden.

Das Geld ist unser letztes Tabu

Die Quellen dieses Wohlstands sind selten Gesprächsthemen unter Freunden. Da ist von „Darlehen der Eltern“ die Rede, manchmal von einem „Zuschuss“, fast nie jedoch von Erbschaft oder Schenkung. „Es ist leichter, eine Frau nach ihren Menstruationsbeschwerden zu fragen als nach dem Preis einer Immobilie. Geld ist das letzte große Tabu“, schrieb die Journalistin Sabine Rennefanz in einer Kolumne. 50 Prozent aller Deutschen erben nichts – oder Schulden. Dafür erhalten acht Prozent aller Erben 40 Prozent des vererbten Gesamtvermögens. Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland jedes Jahr 300 Milliarden Euro vererbt werden. Zum Vergleich: Der Bundeshaushalt für das Jahr 2022 beträgt 450 Milliarden Euro.

Die Schätzung ist nötig, weil es keine behördlichen Zahlen gibt zur Gesamtsumme der Erbschaften und Schenkungen. Die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann weiß, warum: „Die Reichen haben viel Lobbyarbeit investiert, um eine verlässliche Statistik zu verhindern. Sie wissen genau, dass eine Verteilungsdiskussion nicht geführt werden kann, wenn die Daten fehlen.“ Vermögen werden kaum erarbeitet, sondern fast immer vererbt. In den 1970er- Jahren war das Vermögen der Deutschen doppelt so hoch wie das jährliche Bevölkerungseinkommen. 2010 war es bereits vier Mal so hoch. Nur fünf Prozent aller Erben zahlen Steuern. Nicht, weil 95 Prozent böse Menschen sind. Das Gesetz will es so.

Wer besonders klug ist, gibt sein Vermögen schon zu Lebzeiten weiter. Dieses erbschaftssteuerfreie „Vererben mit warmer Hand“ ist in Deutschland legal. Alle zehn Jahre dürfen sowohl die Eltern als auch die Großeltern einem Kind oder Enkelkind steuerfrei jeweils 800.000 Euro vermachen. Bis zum zwanzigsten Lebensjahr kann ein Deutscher also im besten Fall 4,8 Millionen Euro steuerfrei erben. Wer monatlich nur 200 Euro zur Seite legen kann, müsste für diesen Betrag wie lange sparen? Richtig: 24.000 Monate lang. Das sind exakt 2.000 Jahre.

Deutschland ist eine Steueroase für Erben

In Deutschland werden Arbeit und Konsum steuerlich besonders stark belastet. Wer also schöpferisch tätig ist und sein Geld dann im Wirtschaftskreislauf hält, zahlt für die Gemeinschaft. Erbschaften und Vermögen hingegen werden in kaum einem anderen OECD-Staat steuerlich so sehr verschont wie hier. Bis 1996 wurden große Vermögen jährlich besteuert. Das Bundesverfassungsgericht monierte, es sei nicht gerecht, dass Immobilien günstigere Konditionen erhielten als Geldvermögen. Als Reaktion schaffte die damalige Bundesregierung die Vermögenssteuer ganz ab. Auch bei der Erbschaftssteuer mahnte das Höchstgericht bereits gesetzliche Unwuchten an. Trotzdem ist Deutschland noch immer eine Steueroase für Erben.

Doch wäre das dahinterliegende Gerechtigkeitsproblem mit ein wenig legislativer Justierung nicht behoben. Vielleicht ist es darum angebracht, die Sache mit dem Erben einmal radikal zu betrachten. Die Autorin Julia Friedrichs hat in ihrem Buch Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht schon 2015 prognostiziert, dass sich Deutschland zu einer „Erbengesellschaft“ entwickle. Das deutsche Erbrecht wurde von den Wohlhabenden und Reichen nahezu unangetastet vom späten 19. Jahrhundert in die Gegenwart gerettet. Seinen Ursprung hat es in traditionellen Familienstrukturen, und es bevorzugt noch heute die blutsverwandtschaftliche Sippe und die Ehe. Wie kann es sein, dass im 21. Jahrhundert erbbiologische Faktoren darüber entscheiden, in welcher Sicherheit ein Mensch leben darf?

Eine solche Frage stellt freilich meist nur jemand, der nichts erben wird; derweil jene, die bereits geerbt haben oder es noch tun werden, das Thema entweder verdrängen oder dem Nicht-Erben vorwerfen, er sei doch bloß neidisch. Dabei gilt die Feststellung von Julia Friedrichs umso mehr in Zeiten wie diesen, da selbst Gutverdiener sich kaum mehr Wohneigentum leisten können: „Es ist hart, gelassen zu bleiben, wenn es nicht um Luxusgüter wie ein schnelles Auto und die Reise ins Skiresort geht, sondern um etwas, das jeder braucht: ein Zuhause.“

Über Erbschaftssteuern gibt es keine politische Debatte

Wer in eine wohlhabende Familie hineingeboren wird, dem finanziert das Familienvermögen oft das Studium und den Berufseinstieg. Danach folgen Geldgeschenke, mit denen sich ein Haus bauen oder kaufen lässt. Bereits vorher bezahlt die Unterstützung der Eltern den Glücklichen all die Jahre, in denen sie an einem Roman arbeiten, sich im prekären Feld des Theaters zu verwirklichen suchen oder über unbezahlte Praktika und kaum honorierte Aufträge den Einstieg in den Journalismus finden. Die Hilfe der Blutsverwandten ist im innergenerationellen Wettbewerb um die erfüllenden Jobs die Privatsubvention für einen Kulturbetrieb und eine Medienlandschaft geworden, die sich bei Veröffentlichung jeder neuen Studie zur sozialen Homogenität der Berufsfelder um „unsere Demokratie“ sorgen; so als hätten sie nichts zu tun mit der Schieflage, dass fast nur noch Leute aus finanziell begütertem Elternhaus künstlerischen Berufen nachgehen können und ganze Bevölkerungsgruppen keine öffentliche Stimme haben.

Darin liegt auch ein Grund, warum in einer empörungsfreudigen Zeit wie dieser ausgerechnet um das Erben überhaupt nicht gestritten, debattiert und gerungen wird. Julia Friedrichs stellte für ihr Buch der damaligen finanzpolitischen Sprecherin der Grünen, Lisa Paus, die Frage: „Ist es schwierig, sich in Sachen Erben zu positionieren, weil es um die eigene Klientel geht?“ Und Paus antwortete ehrlich: „Ja, sicher. Das ist so.“ Außer der Linkspartei fordert derzeit niemand im Bundestag ernsthaft eine deutlich höhere Besteuerung von Erbschaften.

Letztlich funktioniert unsere Gesellschaft beim Thema Erben nach der Logik einer Blut-und-Boden-Ideologie mit Klassenrassismus statt Antisemitismus und völkischem Rassismus. Beispielsweise lautet das beliebteste Argument der Erben, die Eltern oder Großeltern hätten für das Geld viel geleistet, mit dem sie den Kindern nun Immobilien oder mehr spendieren. Offenbar bemerken solche Leute nicht, welcher Sozialchauvinismus hier mitschwingt. Bedeutet es doch, dass Professoren, Anwältinnen oder Ärzte angeblich viel „geleistet haben“, Geringverdiener wie Reinigungskräfte, Friseurinnen oder Möbelpacker sich dagegen nicht genug anstrengen, wenn sie nichts zu vererben haben.

Vorschläge von Thomas Piketty und Guy Kirsch zur Erbschaftssteuer

Der Ökonom Thomas Piketty plädiert für einen „partizipativen Sozialismus“, dessen Kernstück eine „Grunderbschaft“ für jeden in Höhe von 60 Prozent des durchschnittlichen Nettovermögens wäre, ausbezahlt am 25. Geburtstag und finanziert über Vermögens- und Erbschaftssteuern. Noch konsequenter ist ein Vorschlag, den der Wirtschaftswissenschaftler Guy Kirsch vertritt. Er befürwortet eine Schenkungs- und Erbschaftssteuer von 100 Prozent. Die Einnahmen sollten in einen staatlichen Fonds fließen, aus dem dann jedem ab einem gewissen Alter gleich viel ausbezahlt würde, unabhängig vom Vermögensstand der biologischen Ahnen. Ausnahmen gäbe es dabei weder für Betriebsnachfolgen noch für „der Oma ihr klein’ Häuschen“. Nur persönliche Erinnerungsstücke ließen sich noch vererben.

Das läge im Klasseninteresse aller, die keine wohlhabenden Eltern haben und auch die Wahl ihres Ehepartners nicht von der zu erwartenden Erbschaft abhängig machen wollen. Gerecht umsetzbar wäre die Idee aber nur in einer Gesellschaft, die nicht mehr vorrangig nach Profit produziert, sondern nach Bedarf, denn sonst setzt sich die systematische Ungleichheit trotz gleicher Startbedingungen einfach später fort. Es dürfte außerdem keine Möglichkeit für die Reichen geben, ihr Vermögen zu Lebzeiten in gemeinnützige Stiftungen auszulagern, über die sie am Ende doch nach Gutsherrenart entscheiden würden, was mit dem Geld geschieht.

Welche Möglichkeiten gäbe es, in einem ungerechten politischen System dennoch mehr Verteilungsgleichheit herzustellen? Im Kleinen könnten Erben selbst aktiv werden. Wenn Freunde dringend Geld brauchen, ließe sich eine Schenkung anbieten oder zumindest ein zinsloses Darlehen. Vierzigjährige mit ererbtem Haus könnten für die Kinder der auf engem Raum zur Miete lebenden befreundeten Familie finanzielle Patenschaften übernehmen, um zumindest den Kleinen einen etwas weniger schweren Start ins Leben zu ermöglichen. Sie könnten an Vereine spenden, die Sanktionen bei Hartz IV ausgleichen. Und vieles mehr. Der Kreativität wären keine Grenzen gesetzt. Freilich wäre die Voraussetzung ein anderer Umgang mit Geld. Wer keines hat, sollte das nicht mehr auf eigenes Verschulden zurückführen müssen. Und wer mehr als genug davon hat, sollte sich nicht mehr arm rechnen oder sein Glück der Erbschaft totschweigen.

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