Breaking News >> News >> Der Freitag


Pulp | Rein in die Kiste


Link [2022-06-11 14:42:41]



„Good Pop, Bad Pop“ betitelt Jarvis Cocker seine Memoiren. Schriftstellerin Olivia Laing traf ihn in London in der Bibliothek

Jarvis Cocker ist spät dran. Der Hundeausführer erschien nicht pünktlich, und er wirkt bekümmert, als er in der London Library ankommt, dabei hat er schon angerufen, um sich zu entschuldigen. Immer noch spindeldürr, die Haare ungekämmt, die Tasche voll mit Büchern, sieht er aus wie der Inbegriff des zerknitterten Dandys in der Stadt.

Wir sind hier, um über seine Memoiren Good Pop, Bad Pop zu sprechen. Aber erwarten Sie keine Geschichten über Britpop-Exzesse. Das Buch erzählt davon, wie er in Sheffield aufwuchs, von seiner langwieriger, leidenschaftlichen Lehrzeit in den Ausläufern des Pop, und es endet 1985, Jahre bevor Pulp erfolgreich wurde. Cocker hat sich für die Bibliothek entschieden, weil sich das Buch um seine eigene Sammlung dreht. Jarvis Cockers Archiv hat die letzten zwei Jahrzehnte in einer mottenverseuchten Londoner Dachkammer verbracht, einem niedrigen, engen Lagerraum, den er mit einer Toblerone vergleicht.

Was befand sich da oben: kostbare Reliquien oder ein Haufen Müll, der sich unerklärlicherweise nicht wegwerfen ließ? Während des Lockdowns ging er die gigantische Aufgabe an, die Sachen ans Licht zu zerren. Es stellte sich heraus, dass er eine Zeitkapsel gebaut hatte. Selbst die scheinbar wertlosesten Gegenstände – ein benutztes Stück Imperial-Leather-Seife, ein Gipsabdruck seiner schiefen Zähne, ein Polyesterhemd, ein grüner Plastikapfel – setzten einen Schwall von Erinnerungen frei. Die Perle aber war ein kleines beiges Schulheft, auf dessen Einband der Name seiner Mutter stand. Es enthielt den Masterplan seiner Band Pulp, geschrieben von einem 15-jährigen Cocker, als er noch nicht einmal wusste, wie man einen Akkord auf einer Gitarre spielt, geschweige denn Bandkollegen ernannt hatte oder Songs schrieb. Es enthält eine detaillierte Aufschlüsselung der Pulp-Garderobe („grelle“ T-Shirts, Röhrenhosen und „ranzige“ Krawatten) sowie die Akkorde zu Annie’s Song von John Denver („Credibility. Hin und weg“). Das Beste ist die Karikatur eines Beils mit der Aufschrift „Pulp Inc“, das eine Faust mit der Aufschrift „Major Record Label“ spaltet, die einen gequetscht wirkenden „Unterdrückten Künstler“ umklammert.

Peinlichkeit und Glamour

Eine ungewöhnliche Vision von kreativem Erfolg für einen Teenager. „Ich habe nicht einfach gesagt: Ich will eine Jacht und viel Geld. Ich habe gesagt: Ja, wir werden die Struktur der Gesellschaft verändern.“ Er lacht reumütig. „Nette Idee.“

1981 mit Pulp auf dem Weg zu den Aufnahmen für ihre erste BBC-Session mit John Peel

Foto: Jarvis Cocker/Guardian/eyevine/laif

Die Gründung von Pulp war auch ein Weg, die alltägliche Existenz auf alchemistische Weise in eine fantastischere Version zu verwandeln. Im Laufe unseres Gesprächs redet er mehrmals darüber, wie hartnäckig er sich wünschte, im Fernseher zu leben, in einer von Dinosauriern, Daleks und den Monkees bevölkerten Abenteuerzone. „Mir ist klar, dass dieses Bild heute nicht mehr so gut funktioniert, weil Fernseher nur noch flache Bildschirme sind. Aber als sie noch Kisten waren, dachte man – was ist da drin? Man konnte sich fast vorstellen, dass man hineinpasst.“

Es war Punk, der einen Weg hinein bot. Plötzlich war Schrägheit ein Pluspunkt, Elvis Costello verhalf dem Kassengestell zu seinem Recht, während The Fall und The Slits kaum ihre Instrumente beherrschten. Der junge Jarvis lag im Bett und hörte unter der Bettdecke die Radioshow von John Peel, bereit, jeden Song, der ihm das gab, was er heute noch „das Kribbeln“ nennt, auf seinem Radiorekorder aufzunehmen.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich Jarvis Cocker treffe. Das war am 5. März 1993, als Pulp am South Parade Pier in Portsmouth auftrat. Ich war 15 und hatte mich mit einer Freundin davongeschlichen. Wir trafen die Band draußen, bewunderten Jarvis’ Krawatte und stellten uns im Club auf eine durchtanzte Nacht ein, als das Licht anging und eine Stimme verkündete, dass zwei minderjährige Mädchen im Gebäude seien. Wir lachten über diese Loser, bevor wir aufblickten und den Vater meiner Freundin sahen. Es war eine der beschämendsten Erfahrungen meines Lebens.

Im Nachhinein betrachtet hat dieses Szenario mehr als nur ein bisschen was von Pulp. Die Peinlichkeit reibt sich in ihren Liedern immer wieder am Glamour und droht, ihn zu zerstören. In Cockers Texten wimmelt es von Busdepots, Tankstellen und Eckläden, die in einer elektrisierenden Landschaft aus sexuellen Fantasien und Scheitern eine Rolle spielen. Er verlieh den Sheffielder Vororten Catcliffe, Ecclesall und The Wicker denselben schäbigen Glamour, wie ihn Serge Gainsbourgs Montmartre oder Lou Reeds East Village haben.

Hart auf die Erde fallen

Die Einsicht, dass es möglich, ja sogar wünschenswert ist, über reale, alltägliche Ereignisse und Orte zu schreiben, kam ihm erst mit Anfang 20. Der Rest der Band ging an die Universität, aber er wollte den Pop-Traum nicht aufgeben, lebte von Sozialhilfe, besuchte an zwei Abenden pro Woche die „Disco-Universität“ im Club The Limit, anstatt in Liverpool Englisch zu studieren. Er hätte vielleicht ewig so weitergemacht, wäre er nicht aus Versehen aus dem Fenster eines Mädchens gestürzt, das er zu beeindrucken versuchte. Er fiel zwei Stockwerke tief, zertrümmerte sich mehrere Knochen und lag monatelang im Krankenhaus. „Das hat alles in eine andere Perspektive gerückt“, glaubt er heute. Dort, in seinem Krankenhausbett, habe er erkannt, dass reale Dinge „das einzig Interessante sind. Ich musste hart auf die Erde fallen, um das zu verstehen.“

Diese Erkenntnis erinnert ein wenig an Andy Warhol. Wie Cocker war auch Warhol in die demokratische Anziehungskraft alltäglicher proletarischer Gegenstände verliebt. Er wollte die Pop-Art sogar „Common Art“ nennen. Das Problem mit dem Pop ist, dass er voraussetzt, populär zu sein. Warhol war fasziniert von Ruhm, insbesondere von der unheimlichen Art und Weise, wie er eine Person in ein Spektakel verwandelt. Man würde sich wünschen, dass einer, der über ein Jahrzehnt lang ein Popstar werden wollte, sich freut, wenn er es geschafft hat. Hier werden Cockers Memoiren ein wenig melancholisch. Sie enden, als er 22 ist und immer noch hartnäckig seinen überdimensionierten Traum verfolgt. Doch Ende der 1990er wird er bereits von Paparazzi gejagt werden und nicht mehr in einen Laden gehen können, um Milch zu holen. Seine damalige Freundin, die Schauspielerin Chloë Sevigny, sagte kürzlich in einem Interview, sie habe ihre spätere Karriere bewusst aus dem Wunsch heraus gestaltet, dieser Form von beängstigendem, vernichtendem Ruhm zu entgehen.

Der siebenjährige Jarvis im Kreise der Familie

Foto: Jarvis Cocker/Guardian/eyevine/laif

Wie kam er zurecht mit dem erzwungenen Wechsel vom Beobachter zum Beobachteten? „Ich weiß nicht, ob mir das gelungen ist. Ruhm hat den Himmel in früheren Glaubenssystemen ersetzt. Man denkt, dass das eigene Leben etwas lahm ist, oder nichts klappt so richtig, aber wenn man berühmt ist, steht man vorn in der Schlange, sitzt am besten Tisch – all diese paradiesischen Dinge. Macht man dann die Erfahrung, um die sich dieses seltsame Glaubenssystem rankt – das man selbst auch mitkonstruiert hat –, so ist sie nie das, was man sich vorgestellt hat. Ich bin nicht im Fernseher gelandet.“

Heimlich, feucht, komisch

Alte Pulp-Songs haben etwas Heimliches, etwas Feuchtes und Libidinöses, aber auch etwas Verletzliches, Unbeholfenes und Komisches. Sie handeln davon, dass man für Leute schwärmt, die nicht für einen schwärmen, oder dass man sich mit dem falschen Mädchen vergnügt. Ihre erotische Frequenz reicht von dem atemlosen pubertären Voyeurismus von Babies („I hid inside her wardrobe, and she came home ’round four, and she was with some kid called David, from the garage up the road“) bis zu den düsteren Beschwörungsriten von This Is Hardcore, das eigentlich davon handelt, vom Ruhm gefickt zu werden.

Als ich diese Songs jetzt erneut hörte, wurde mir klar, wie sehr sich verändert hat, wie sich Sexualität ausdrückt. Niemand kann diese Songs als unschuldig bezeichnen, und doch sind sie Artefakte aus einer unschuldigeren Zeit, bevor es so etwas wie die Incel-Bewegung gab, die männliche sexuelle Inkompetenz oder Versagen mit extremer Frauenfeindlichkeit und Anspruchsdenken verknüpft hat.

Cocker ist mit diesem Konzept nur vage vertraut und offen entsetzt darüber. Ja, sage ich, sie reden vom Recht auf Sex. „So etwas wäre für mich undenkbar gewesen, ich bin in einem sehr weiblich geprägten Umfeld aufgewachsen. Als ich also anfing ... Triebe zu verspüren, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, Frauen als Objekte zu betrachten.“ Es gibt ein Foto, das ihn mit sieben Jahren zeigt, in blauen Shorts und Flip-Flops, umgeben von Frauen jeden Alters: Schwester, Cousine, Mutter, Oma, Tanten. Sein Vater hatte gerade die Familie verlassen und war nach Australien gezogen, buchstäblich so weit weg, wie es nur ging.

Der Vater schleicht sich in das Buch

„Als ich mein Buch Good Pop, Bad Pop nannte, war mir zuerst nicht klar, dass es auch um meinen Vater gehen könnte“ („Pop“ bedeutet im Englischen auch „Papa“). „Das einzig Interessante an meinem Vater ist, dass er nicht da war. Ich will nicht wie ein Küchenpsychologe klingen, aber ich glaube, man sucht nach etwas, das diese Rolle ausfüllt.“ Es war Pop – der gute Vater –, der sich um ihn kümmerte, der ihn nährte und versorgte, der ihn beruhigte und für Aufregung sorgte.

Mehrmals erwähnt er, er versuche besser mit Beziehungen umzugehen, anstatt sich vor dem Fernseher zu verkriechen und seine Gefühle in einen Song zu packen. Die Entrümpelung des Dachbodens ist Teil einer konzertierten Aktion, um alte Dinge in den Griff zu bekommen. „Dass ich heute Morgen wegen des Hundeproblems angerufen habe, war ein kleiner Durchbruch“, sagt er. „Vor ein paar Jahren hätte ich mir einfach nur Sorgen gemacht, die Fahrt wäre ein Alptraum gewesen.“

Zu sehr ändern will er sich aber nicht: „Schlechte Kommunikation kann zu vertrackten Situationen und moralischen Problemen führen. Aber es hat auch etwas Schönes, sein Leben als Rohmaterial zu verwenden und daraus etwas zu machen, das bleibt, zu dem Menschen Zugang haben und das ihnen etwas bringt.“ Und dann geht er los, sich ein Sandwich holen, der Mann, der auf die Erde gefallen ist, so gewöhnlich, wie es euch gefällt.

Olivia Laing ist eine britische Journalistin und Schriftstellerin, zuletzt veröffentlichte sie den Roman Crudo (Picador 2018). Eine Langfassung ihres Artikels erschien im Observer

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.



Most Read

2024-09-19 20:04:11