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Pro & Contra | Böhmermann oder Kliemann: Zu wem halten Sie?


Link [2022-05-22 18:52:54]



Das Internet macht Gefühle zur Ware – wenn Influencer wie Fynn Kliemann damit Geschäfte machen, ist es ihnen nicht vorzuwerfen. Oder? Pro

Ich verrate Ihnen etwas: „Nachhaltigkeit“ ist eine Erfindung von uns Werbern. Nachdem wir über Jahrzehnte die Wörter „Premium“, „Qualität“ und „Innovation“ verschlissen hatten, musste ein neues Werbeversprechen her. Da kam Greta Thunberg gerade recht. Mit ihrem Weltrettungs-Marketing planierte sie Agenturen den Weg zum empfindlichsten Punkt des aufgeklärten kaufkräftigen Konsumenten: dem schlechten Gewissen. Nachhaltigkeit funktioniert wie mittelalterlicher Ablasshandel. Man zahlt für bestimmte Konsumgüter wie Kleidung und Lebensmittel ein wenig mehr – und erwirbt dadurch die Gnade, auch weiterhin Auto fahren und Fernreisen machen zu dürfen. Details sind dabei nur störend. So genau will man gar nicht wissen, inwiefern ein Produkt nachhaltig produziert wurde. Während man Leistungsversprechen grundsätzlich misstraut (sonst würden die Stiftung Warentest sowie die diversen Verbraucher- und Bewertungsportale nicht so rege genutzt werden), reichen beim Thema Nachhaltigkeit schon ein paar Siegel, um den kritischen Verbrauchergeist abzuschalten. Ja, es genügt, dass ein Unternehmer versichert, seine Produkte seien nachhaltig.

Genau das hat Fynn Kliemann getan. Er hat jenen, die es hören wollten, erzählt, seine Schutzmasken würden „fair“ und „in Europa hergestellt“. Als dann Jan Böhmermann – die Moralinstanz des postmodernen Wohlstandsbürgers – öffentlich machte, dass sie tatsächlich in Vietnam und Bangladesch produziert wurden, wurde Kliemann virtuell gesteinigt.

Aufwschwung

Zu Unrecht. Man hätte sich bloß die Mühe machen müssen, zu hinterfragen, ob Nachhaltigkeit nur in Europa möglich ist. Und was heißt „fair“ hier überhaupt? Wer sich die Erfolgsgeschichten von China oder Südkorea anschaut, entdeckt Bemerkenswertes. Beide Staaten begannen ihren Aufstieg als Billiglohnländer. Wobei dieser Ausdruck irreführend ist. Denn „billig“, also niedrig, waren die dort gezahlten Löhne nur im Vergleich mit westlichen Industrieländern.

Bei der Kaufkraft sah die Sache schon anders aus: Die „Billiglöhne“ ermöglichten es in diesen Ländern Millionen, die Armut hinter sich zu lassen und in die Mittelschicht aufzusteigen. Eine ähnliche Entwicklung findet seit einigen Jahren in Vietnam statt. Bangladesch, das seit George Harrisons Benefizkonzert 1971 hartnäckig mit Hunger und Elend verbunden wird, ist tatsächlich ein „Land im Aufschwung“ – meint zumindest das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit. Selbst im Corona-Jahr 2020 gab es dort ein Wachstum von 3,5 Prozent. Wie Vietnam zählt Bangladesch zu den „Next Eleven“ – Staaten, denen man einen Aufschwung prophezeit wie zuvor China, Brasilien und Indien.

So entpuppt sich die „verlängerte Werkbank Europas“ als Erfolgsmodell für die Menschen, die an dieser Werkbank arbeiten. China zeigt zudem, dass der Erfolg kein Strohfeuer ist. Lebten Anfang der 1980er-Jahre noch 88 Prozent der Chinesen in extremer Armut, ist es heute nicht mal ein Prozent.

Daher sollte man sich vom europafixierten Begriff von Nachhaltigkeit verabschieden. Kleidermanufakturen, die für Firmen wie Kliemanns „Global Tactis“ arbeiten, genügen nicht den Anforderungen des deutschen Arbeitsrechts. Doch die Menschen vor Ort wird dies kaum bekümmern. Mit ihrem Verdienst ermöglichen sie ihren Kindern ein besseres Leben. Wenn das nicht nachhaltig ist!

Frank Jöricke

Frank Jöricke ist Werbetexter und Autor des nachhaltigen Familienromans Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage

Contra

Als Fynn Kliemann am 1. Mai, sich wieder mal als Held der Handarbeit stilisierend, ein Handy-Video auf seinem Instagram-Kanal hochludt, in dem er versuchte, einem Fragenkatalog des Redaktionsteams von Böhmermann zu seinen Geschäftspraktiken den Wind aus den Segeln zu nehmen, da ahnte man schon, die Rache dafür wird saftiger als Blutwurst.

So war es auch Sensationslust, mit der man hinschaute, als sich der Beitrag des ZDF Magazin Royale zum Heimwerker-Influencer Kliemann vier Tage später im Internet verbreitete. Im Internet, dessen Kind Kliemann ist; auf der Ateliereröffnung oder in der Karaoke-Bar, da wussten erstaunlich wenige um die Anschuldigungen gegen ihn.

Kliemann, der in Videos über seinen niedersächsischen Hof, den er mit „Freunden“ ausbaut, Werbung macht, der außerdem Musiker, Künstler, Vermieter, Gastronom ist, an Firmen beteiligt ist und als Testimonial für Firmen wirbt, der das Invest dieser Firmen clever nutzt, da er sich nicht wie andere Influencer, eine It-Bag schicken lässt, sie kurz in die Kamera hält um sie danach auf Gebrauchtbörsen an der Steuer vorbei verscheuert, sondern der sich vom Schleifgerät bis zur Badewanne alles sponsorn lässt, um zum Beispiel ein Ferienhaus zu eröffnen, mit dem dann noch mehr Geld zu machen ist.

Wenn Kliemann ein Corona-Testzentrum in seinem „Kliemansland“ eröffnet, dann tut er das nicht, weil er damit Geld umsetzt, sondern es ist „ein Geschenk an die Region.“ Wenn er Arbeitskräfte nicht bezahlt, ist das keine Ausbeutung, sondern voll nett, dass er ihnen ermöglicht, ein bisschen Zeit auf seiner Baustelle zu verbringen. Geld, so sagt er, hat er nie. Obwohl er allein an Ostern mit seinen Bildern 1 Millionen Euro gemacht hat, wie nord24.de errechnete.

Böhmermanns Team hat also nun mit Hilfe von geleakten Dokumenten den Vorwurf erhoben, dass Kliemann Coronaschutzmasken verkauft hat, die 1. nicht wie beworben in Europa, sondern u.a. Bangladesh produziert wurden und 2. fehlerhaft waren und 3. Teile dieser Masken an Flüchtlingscamps verkauft oder gespendet hat und er sich dafür als Held feiern ließ. Viele von seinen Geschäftspartnern distanzierten sich, um die eigene Marke zu retten.

Hinterfragen

Ekelhaft! schreien aber auch die, die die moralische Überlegenheit Böhmermanns immer ein bisschen zusammenzucken lässt, weil man ja selber nicht den ersten Stein werfen mag. Das Video zu Kliemann war aber sehr befriedigend. Die Frage ist, warum?

Weil Kliemann ein Vertreter der Kapitalismus-Erhalter ist, die den gesättigten Markt mit neuen Waren versorgt: gute Gefühle, Identifikation, Zugehörigkeit. Wer nichts mehr braucht, kauft einen Kliemann-Pulli und wird sein Freund. Ein auf Inszenierung ausgelegtes Geschäft, das wütend macht. Doch Fynni zu kritisieren reicht leider nicht. Hinterfragt werden muss das System, das die richtige Einstellung, die richtige Life-Story verkaufbar macht und neue green- und pink- und woke-Märkte erschließt. Kliemann macht nur deutlich: Wer von Community spricht, meint Kundschaft. Und die wird von ihren Lieblings-Internet-Celebrities verarscht.

Dass Kliemann nun die zur Hilfe springen, deren Geschäftsfeld ebenso erfundene Identitäten sind, um sich damit ein devotes Fan-Publikum aufzubauen, das Marken-Koops rechtfertigt, passt. Ob Kliemann schuldig ist, muss strafrechtlich geklärt werden. Dass er eine zweite Chance bekommt ist möglich – wenn er sich an das Drehbuch der Internet-Gescholtenen hält: Rückzug, Reue, Rückkehr nach Versicherung, eine Therapie zu machen. Denn es gibt eben genügend Leute, die sich verarschen lassen wollen, um überhaupt noch an etwas glauben und es kaufen zu können.

Laura Ewert

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