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Präsidentenwahl | Wahl in Kolumbien: 180-Grad-Wende mit Gustavo Petro möglich – Linke warnt vor Putsch


Link [2022-05-25 08:39:04]



Ein Sieg von Gustavo Petro bei der Präsidentenwahl in Kolumbien am 29. Mai könnte durch einen Putsch verhindert werden

Das demokratische Kolumbien schaut gespannt auf Gustavo Petro, den Umfrage-Favoriten der für den 29. Mai anstehenden Präsidentenwahl. Mit italienischen und kolumbianischen Vorfahren ausgestattet, gilt der 62-jährige Ökonom aus der Provinz Córdoba als einer der sachkundigsten, vor allem zukunftsweisendsten Politiker landesweit. Petro war Stadtverordneter, in den 1990er Jahren Botschaftssekretär in der Gesandtschaft Kolumbiens für die Benelux-Staaten wie die EU, von 2012 bis 2015 Bürgermeister von Bogotá – derzeit ist er Senator. Vom konservativen Mainstream als „radikaler Linker“ gesehen und von Militärs bis hin zur Narkoszene als „Umstürzler“ diffamiert, verblüfft Petro einen Teil seiner Anhänger mit der Auffassung, „der Sozialismus kann nicht von Interesse und das Ziel sein, vielmehr ein funktionierender Kapitalismus des produktiven Antriebs, der sozialen Umverteilung und einer unbedingt klimafreundlichen Entwicklung“. Was jedoch nur dann in Aussicht steht, wenn der dank einer skrupellos neoliberalen Politik seit Jahrzehnten geschwächte Staat gestärkt werden sollte.

Gustavo Petro weiß, wovon er spricht. Der seit 2018 regierende Staatschef Iván Duque hat dem 51 Millionen Einwohner zählenden Land eine Arbeitslosigkeit von 15 Prozent und 20,4 Millionen (40 Prozent) verarmte, teils unterernährte Menschen beschert. Dazu nimmt das Morden kein Ende. Seit 2015 wurden über 900 Sozial- und Umweltaktivisten getötet, 145 allein im Vorjahr. Und was weiß die Welt von der massivsten Vertreibung ländlicher Bevölkerung im globalen Maßstab? Nach Angaben des Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) von Ende 2020 waren zu diesem Zeitpunkt 4,9 Millionen Kolumbianer „infolge des bewaffneten Konflikts im Inland“ zu Binnenflüchtlingen geworden. Welcher „Konflikt“ war gemeint? Seit sich die Guerillabewegung FARC 2016 auflöste, haben die Drogenkartelle nicht nur deren ehemalige Kampf-Enklaven besetzt, sondern die Subsistenz-Landwirtschaft Hunderttausender von Kleinbauern buchstäblich überrannt.

Diese Zustände hat Petro in seiner Wahlkampagne angeprangert und auf Alternativen verwiesen. Statt dass diese angewendet werden, sind die Entsiedelten und ins Subproletariat Verstoßenen dem Zugriff der Drogenbosse ausgesetzt. Denen sollen sie mit einem milliardenschweren agrarischen Entwicklungsprogramm wieder entrissen werden, steht in Petros Regierungsagenda. Im Februar gab er in diesem Zusammenhang die Namen von einem Dutzend aktiver Generäle und Offiziere bekannt, die bis dahin nachweislich im Dienst des Drogenkartells Clan del Golfo standen. Seither gilt der aussichtsreiche Wahlkämpfer der Generalität und einer demokratieabstinenten Oligarchie als „innerer Feind“. Dabei bedient sich die konservative Offensive eines an den Haaren herbeigezogenen Verschwörungsgarns. Es geht um Petros Vergangenheit in dem vor 30 Jahren aufgelösten Guerillaverband M-19. Eine Partisanengruppe, die sich aus Protest gegen einen von den Rechtsparteien orchestrierten Wahlbetrug im Jahr 1970 als Untergrund formiert hatte.

Wahlkampfleitung von Gustavo Petro warnt vor False-Flag-Manöver

Eine Woche vor dem Wahltermin warnten Petros Wahlkampfleitung und sein progressives Bündnis „Pacto Histórico“ vor einem False-Flag-Manöver. Es geht um das Beschwören angeblicher öffentlicher „Gewaltausbrüche“, die für die noch amtierende ultrakonservative Regierung von Iván Duque ein Anlass sein könnten, zu einem präventiven Putsch auszuholen oder sich legitimiert zu fühlen, das Votum auszusetzen. Die Warnung des „Pacto Histórico“, dem acht Parteien und soziale Bewegungen angehören – darunter Kommunisten, Sozialdemokraten, Grüne, Feministinnen und Indigene –, ist nicht übertrieben. Anfang Mai entging Petro einem Mordanschlag der paramilitärischen Drogengang „La Cordillera“. Am 21. Mai musste die afrokolumbianische Anwältin Francia Márquez, die sich als Vizepräsidentin Petros bewirbt, ihre Wahlkampf-Abschlussrede abbrechen, weil sie mehrfach in das Visier eines bedrohlichen Laserpointers geriet. Was ermittelten dazu bisher Staatsanwaltschaft und Polizei? Nichts, null Aufklärung.

Das demokratische Kolumbien reagiert mit seinen Mahnungen keineswegs überspannt. Schließlich wurden seit 1948 fünf progressive Präsidentschaftskandidaten erschossen. Daran ist zu erinnern, wenn das konservative Lager mobilmacht. Es steht nach den letzten Umfragen unter Schock und spielt auf der Klaviatur eines repressiven Boykottregisters. Sämtliche Erhebungen rechnen für den ersten Wahlgang mit einem überwältigenden Vorsprung Petros, der auf 40 Prozent der Stimmen und mehr kommen könnte. In etwa so viel, wie für die drei rechten Herausforderer Federico „Fico“ Gutiérrez (25 Prozent), Rodolfo Hernández (18) und Sergio Fajardo (6) in der Addition veranschlagt werden. Vieles spricht dafür, dass der linke Bewerber am 19. Juni gegen Fico Gutiérrez, den Bürgermeister von Medellín, zur Stichwahl antreten könnte. Vorausgesetzt, er verfehlt die absolute Mehrheit in Runde eins. Die Hoffnungen Petros gelten den etwa zwölf Prozent noch unentschlossenen Wählern.

Werden Kolumbiens Rechte und die USA seinen Sieg und eine denkbare 180-Grad-Wende zulassen? Trotz des erbärmlich gescheiterten, durch den Präsidenten Bill Clinton 1999 dem Land verpassten „Plan Colombia“ zur Drogenbekämpfung trieben die Vereinigten Staaten die Militarisierung dieses Premium-Partners in Lateinamerika durch massive Waffenlieferungen weiter voran und unterhalten bis heute sieben Militärstützpunkte. Erst im März hat Joe Biden Kolumbien für den Subkontinent zum „Hauptverbündeten außerhalb der NATO“ erklärt.

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