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Präsidentenwahl | Putschgerüchte in Brasilien: Jair Bolsonaro will auch ohne Wahlsieg im Amt bleiben


Link [2022-06-17 22:31:23]



Für das ultrarechte Regierungslager in Brasilien steht bereits fest, dass Lula da Silva im Oktober nur durch Betrug triumphieren kann. In aktuellen Umfragen liegt er aber deutlich vorn

Das Bolsonaro-Regime hat einen Sprengsatz gelegt. Noch ist der nicht gezündet, doch je mehr der 2. Oktober heranrückt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es geschieht. An diesem Tag sollen Wahlen über das nächste Staatsoberhaupt, das Parlament und die 26 Gouverneure der Regionen entscheiden. Diese Abstimmung droht sabotiert zu werden. Dem um ein drittes Mandat kämpfenden Luis Inácio Lula da Silva werden nach jüngsten Erhebungen bis zu 48 Prozent der Stimmen vorhergesagt. Mit 27 Prozent, also deutlich hinter Lula, liegt der derzeitige Staatschef Jair Bolsonaro, sodass dessen Ambition – das ist Konsens unter den Analysten – für eine zweite Amtszeit als aussichtsloses Unterfangen erscheint.

Aber nichts fürchtet der Amtsinhaber mehr als eine Niederlage. Sie könnte ihm für den Rest seiner Existenz ein „Aufwachen mit der viereckigen Sonne im Zellenfenster“ bescheren, so der ironische brasilianische Volksmund über ein Leben hinter Gittern. Gegen Bolsonaro sind gegenwärtig etwa 200 Verfahren anhängig, vor denen ihn bisher noch präsidiale Immunität schützt. Besonders schwer wiegt die Anklage einer parlamentarischen Untersuchungskommission wegen des Boykotts von Covid-19-Schutzmaßnahmen und Impfstoffen. Bolsonaro wird damit für die etwa 660.000 Covid-Todesopfer verantwortlich gemacht, über deren teilweisen Erstickungstod er sich per Videoschaltung lustig machte.

Es gibt Klagen, die Bolsonaro einen Hang zum Sadismus und Rassismus attestieren. Sein Aufruf zur zivilen Massenbewaffnung hatte einen Kriminalitätsschub zur Folge. Die Forderung, Polizisten müssten in ihren Einsätzen vom Vorwurf der Rechtswidrigkeit geschützt werden, wirkte wie ein Freibrief für Brutalität. Das renommierte Investigativ-Portal A Pública nannte die von Jair Bolsonaro durch aggressive Rhetorik angeheizten Polizeiaktionen „Staatsverbrechen“ („crime de Estado“). Zuletzt sorgten allein 39 Einsätze der Landespolizei Rio de Janeiros für 178 Erschießungen von mutmaßlichen „Kriminellen“, zumeist verarmte, schwarze Favela-Bewohner.

Gegen den mehrfach als schwer verhaltensgestört bezeichneten Präsidenten wurden überdies beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag drei Klagen wegen Genozids an den indigenen Gemeinden Amazoniens, wegen Umweltvernichtung und Verletzung von Menschenrechten eingereicht. Im Land selbst blieb das bisher wirkungslos. Ein Bataillon von Anwälten sorgt rund um die Uhr dafür, dass es zu keinen Anklagen kommt, die eine Amtsenthebung bewirken könnten. Umso mehr wartet man auf Entscheidungen aus Den Haag, aus denen sich ersehen lässt, wie dort mit den erhobenen Vorwürfen umgegangen wird.

Bolsonaro wehrt sich auf eine eminent politische Weise. Im Bund mit ultrarechten Militärs lasse er Fake News über die elektronischen Abstimmungsurnen des brasilianischen Wahlsystems verbreiten, so Richter Alexandre de Moraes vom Obersten Gerichtshof (STF). Die Diskreditierung der seit 1996 erfolgreich eingesetzten elektronischen Wahlmaschinen begann 2019, kurz nach Bolsonaros Amtsübernahme. Sie erhielt Aufwind mit der Debatte in den USA über die Rechtmäßigkeit der dortigen Präsidentenwahl vom November 2020 und dem Sturm auf das Kapitol Anfang Januar 2021, die Bolsonaros „Helden“ Donald Trump angelastet wird.

Manifest Projeto Nação – Brasil em 2035: Fortschreibung des Projekts „Neue Demokratie“

Derzeit verfällt der Staatschef Brasiliens einer absurden Variante des Trumpismus, indem er bereits Monate vor der Wahl in seinem Land über ein „Komplott“ des Obersten Wahlgerichts (TSE) zugunsten von Lula da Silva spekuliert. Die Folge davon ist eine Kraftprobe mit den Wahlbehörden, die vom rechtsradikalen Lager um Bolsonaro unter Druck gesetzt werden. Eine im März ausgesprochene Einladung an die Europäische Union zur Entsendung von Wahlbeobachtern ist bereits widerrufen. Edson Fachin, hoher Richter am TSE, forderte am 1. Juni in einer Presseerklärung das diplomatische Korps dazu auf, wegen der Wahlen „in Alarmbereitschaft“ zu sein.

US-Präsident Joe Biden war angetreten, Bolsonaro zu „zähmen“, dürfte damit aber vollends gescheitert sein. Anfang Mai enthüllten Whistleblower gegenüber der Agentur Reuters, es habe im Juli 2021 einen Blitzbesuch von CIA-Direktor William Burns bei Bolsonaro gegeben, der nur einem Zweck diente: Bolsonaro aufzufordern, er „solle aufhören, das Vertrauen in Brasiliens Wahlsystem zu versauen“.

Dem hirnrissigen, jedoch zur Destabilisierung optimalen Verschwörungsnarrativ hat sich das rechtsradikale Lager innerhalb der Streitkräfte angeschlossen. Es droht den Wahlgremien mit einer eigenen „parallelen Wahlüberwachung und Auswertung“. Gesagt, getan. General Heber Garcia Portela jettete nach Israel und kaufte die Spionagesoftware des dortigen Start-ups Cysource, das bereits Militärs in Brasilia zu elektronischen Spionen und Hackern ausbildet.

Dies geschah im März. Am 22. Mai veröffentlichten Militärs unter Führung des Generals a. D. Luis Eduardo Rocha Paiva das 93 Seiten umfassende Manifest Projeto Nação – Brasil em 2035 (Projekt Nation – Brasilien im Jahr 2035), ein autoritäres Gemisch aus US-Deep-State und Aleksandr Dugin, dem Frontmann der „Neuen Rechten“ in Russland. Das Dokument verdeutlicht, dass es dieser Klientel um viel mehr als Bolsonaro geht, dem offenbar bisher die „Drecksarbeit“ als Aufgabe oblag. Der von allen drei Waffengattungen unterzeichnete „Vorschlag“ der Armee, die seit 2019 mit gut 6.000 strategisch platzierten Offizieren zivile Ämter der Bolsonaro-Regierung besetzt, schreibt ein bereits zur Präsidentenwahl 2018 von einem anonym gebliebenen Offizier (vermutlich General Eduardo Villas Boas) den Medien zugeflüstertes Geheimprojekt fort. Dies galt einer „Neuen Demokratie“, die im Verbund mit fundamentalistischen Evangelikalen auf verschärfte neoliberale Normen und Werte wie die „traditionelle Familie“ geeicht war. Die Rechte von Gewerkschaften, Frauen, Indigenen, Afro-Brasilianern, Umweltaktivisten und Homosexuellen dagegen sollten rigoros beschnitten werden.

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