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Porträt | Schwedin des Jahres


Link [2022-06-04 15:29:26]



Amineh Kakabaveh ist als schwedische Abgeordnete die Liebslingsfeindin des türkischen Präsidenten. Die kurdischen Interessen will sie nicht opfern, damit Erdoğan einem NATO-Beitritt des Landes zustimmt. Über eine „Peschmerga im Parlament“

Er hatte am 13. Mai 2022 gerade eine Moschee besucht, da erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan: Es wäre ein Fehler, wenn Schweden und Finnland unter den Schutzschirm der NATO gelangten. Beide nordeuropäischen Länder würden die von ihm als „terroristisch“ eingestufte Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterstützen. Folglich wehrt sich die Türkei gegen die Beitrittsanträge Finnlands und insbesondere Schwedens. Das hat nicht zuletzt mit einer Frau namens Amineh Kakabaveh zu tun.

Eine Woche nach Erdoğans Rede machte der türkische Botschafter in Stockholm, Hakkı Emre Yunt, in einem Interview mit der schwedischen Nachrichtenagentur TT einen irren Vorschlag: Amineh Kakabaveh solle gefälligst in sein Heimatland ausgeliefert werden! Sie habe schließlich Verbindungen zur PKK und gehöre deshalb vor ein Gericht in Ankara gestellt. Da gab es nur ein kleines Problem: „Ich bin gar keine türkische Staatsbürgerin“, erwiderte Kakabaveh. Später tat die Botschaft den Vorstoß als „Missverständnis“ ab. Doch da stand Amineh Kakabaveh bereits im Fokus der internationalen Medien und war in der Türkei zum Hassobjekt der Erdoğan-treuen Presse geworden.

In den vergangenen Tagen habe ich viele Anrufe aus der ganzen Welt bekommen, ob ich Amineh kenne. Ja, ich kenne sie. Seit Jahrzehnten sogar. Wir treffen uns oft und nehmen an vielen Programmen für Menschen- und Frauenrechte teil. Manchmal wird behauptet, sie sei am 6. Dezember 1970 geboren und ergo 51 Jahre alt. Doch dieses Datum ist eine Schätzung, in Wahrheit kennt sie ihr Alter gar nicht: In den kurdischen Gebieten ist der Geburtstag nicht so wichtig – vor allem wenn man aus einer armen Familie kommt.

Seit ihrer Jugend kämpft Amineh Kakabaveh für die Rechte der Kurden

Amineh wurde als eines von acht Kindern in eine Familie in der schönen Stadt Saqqez im iranischen Kurdistan geboren. Sie begann sehr früh zu arbeiten, um die Familie zu unterstützen. Sie verkaufte handgefertigte Produkte und arbeitete auf den Höfen wohlhabender Familien. Als Teenager beschloss sie, sich für die Menschenrechte der etwa zwölf Millionen Kurden im Iran einzusetzen. Im zarten Alter von (geschätzt) 13 Jahren trat sie der verbotenen Komala („Gesellschaft der revoltierenden Werktätigen von Iranisch-Kurdistan“) bei und wurde eine Peschmerga-Kämpferin. Als Teenager flüchtete sie über Griechenland und die Türkei nach Schweden. Dort wurde sie mit 19 Jahren Staatsbürgerin – und Mitglied der Linkspartei. 2008 zog sie als Nachrückerin ins schwedische Parlament ein. Nach einem Konflikt verließ sie die Partei 2019 freiwillig: Zuvor hatte die Parteiführung behauptet, Amineh habe seit einem Jahr nicht mehr an der parlamentarischen Arbeit teilgenommen. Heute ist sie eine unabhängige sozialistische Abgeordnete im Riksdag.

Ahmed Eskandari, ein älterer kurdisch-iranischer Politiker im schwedischen Exil, erinnert sich an Amineh, als sie beide noch in Saqqez lebten: „Amineh ist ein fantastischer Mensch. Sie ist loyal, ehrlich und eine Kämpferin.“ Seit 2005 ist sie Präsidentin der schwedischen Version von Ni Putes Ni Soumises („weder Hure noch unterwürfig“). Das Hauptziel des Vereins ist es, gegen die patriarchalische Unterdrückung in den armen Vorstädten Schwedens zu kämpfen. Unter anderem setzt sich Amineh dort gegen Gewalt ein, die die „Familienehre“ verteidigen soll. 2016 wurde sie für ihr Engagement zur „Schwedin des Jahres“ gewählt. Ihre Biografie Nicht größer als eine Kalaschnikow. Eine Peschmerga im Parlament ist auf Schwedisch, Englisch und Deutsch erschienen. Warum hasst Erdoğan sie so sehr?

Was Recep Tayyip Erdoğan stört

Darauf gibt es viele Antworten: Amineh ist eine freimütige Frau kurdischer Herkunft; Amineh ist Feministin; Amineh kämpft gegen gewaltbereite Dschihadisten, Salafisten und Islamisten; Amineh unterstützt unterdrückte Frauen auf der ganzen Welt. Abgesehen davon ging es gegen die Grundfesten des türkischen Staates, als sie den kurdischen Autonomiegebieten in Syrien (die Kurden sagen Rojava) ihre Unterstützung aussprach.

Springen wir ins Jahr 2021: Magdalena Andersson wurde vergangenen Herbst in einem zersplitterten Parlament zur schwedischen Ministerpräsidentin gewählt (der Freitag 3/2022). Nur eine einzige Stimme war dafür entscheidend. Und zwar die der parteilosen Amineh.

In ihrer Erklärung, warum sie der Regierung ihre Stimme gab, sprach Amineh die Entwicklung der Beziehungen zu den syrischen Volksschutzeinheiten (YPG), die Unterstützung der autonomen Struktur der Region Rojava, die der prokurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP) in der Türkei und die Freilassung ihres inhaftierten ehemaligen Vorsitzenden Selahattin Demirtaş an (was eine scharfe Reaktion der Türkei hervorrief). Die Andersson-Regierung stünde in diesen Fragen auf der richtigen (pro-kurdischen) Seite und deshalb wolle Amineh ihr „in Schwesterlichkeit verbunden“ bleiben.

Erdoğan will nun, dass die sozialdemokratische Regierung in Schweden Aminehs YPG-Unterstützungserklärung in den Papierkorb wirft. Und als Andersson bei einem Termin im Weißen Haus kürzlich sagte, die Probleme mit der türkischen Regierung würden schon „gelöst“ werden, kam die Tageszeitung Aftonbladet zu dem Schluss: „Die Kurden werden unter den Bus geworfen, um Erdoğan bei Laune zu halten.“ Das befürchtet nun auch Amineh und kündigte ihre „Schwesterlichkeit“ mit der Regierung prompt wieder auf.

Kurdo Baksi ist schwedischer Autor. Er wurde in der türkischen Stadt Batman geboren und ist kurdischer Abstammung. Als Aktivist tritt er für die Schaffung eines kurdischen Staates ein

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