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Porträt | Hinsehen. Und dann handeln


Link [2022-04-14 09:38:24]



Die neue Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus musste in ihrer Jugend selbst Gewalterfahrungen machen. Nun ist sie Expertin für Entschädigungsrecht

Einmal im Jahr veröffentlicht das Bundeskriminalamt Daten zum dunkelsten Kapitel deutschen Verbrechengeschehens, zu sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Auch im zweiten Pandemiejahr verzeichnet die Statistik den erwarteten Anstieg, insbesondere im Bereich Kinderpornografie. Es ist nunmehr die Aufgabe von Kerstin Claus, solche Zahlen zu kommentieren und zu erklären.

So erschreckend der Anstieg sei, sagt sie, er sei auch auf die verstärkte Aufmerksamkeit der Polizei und die steigende Aufklärungsrate in diesem Bereich zurückzuführen. Diese Einschätzung gehörte zu den ersten offiziellen Amtshandlungen der neuen, von der am Montag zurückgetretenen Familienministerin Anne Spiegel berufenen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, die die Staffel vor zwei Wochen von ihrem langjährigen Vorgänger Johannes Rörig übernommen hat. Schon diese dürren Zahlen zeigen, wie dringend notwendig diese Institution ist, die sich etwas umständlich Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) nennt.

„Wir müssen von den Betroffenen aus schauen“, ist das wiederkehrende Credo der 52-Jährigen mit der grauen Kurzhaarfrisur, als wir uns im Videocall treffen. Stark erkältet, entschuldigt sie sich für ihre brüchige Stimme – nein, kein Covid! Sie wird aber immer dann nachdrücklich, wenn es um Wichtiges geht. Wichtig ist ihr zunächst klarzustellen, dass ihre eigene Betroffenheit, in den Medien bei ihrem Amtsantritt überall hervorgehoben, nicht nur im Kontext der Kirche zu sehen ist.

Kerstin Claus hat selbst Gewalterfahrungen in ihrer Jugend

Über die eigene Missbrauchsgeschichte in den achtziger Jahren, an der ein evangelischer Pfarrer beteiligt war, der ihre schwierigen familiären Verhältnisse ausgenützt hat und Deckung beim Jugendamt fand, will sie sich nicht ausführlich äußern. „Ich wollte meine Mutter schützen“, erklärt sie nur. Die Geschichte ist an anderer Stelle aber ausführlich nachzulesen. Das kirchliche Spruchverfahren gegen den Pfarrer 2004 verlief für diesen milde, ein späterer Prozess wurde wegen Verjährung eingestellt. Sie habe jedoch ein Interesse daran, bekräftigt Claus, in ihrem Amt „die Konkurrenz der Tatorte ein Stück weit aufzulösen.“ In ihrem Fall waren das Familie, Kirche, Amt. Das schließe auch ein, dass Betroffene Unterstützung erhalten müssen, unabhängig vom Kontext , in dem der Missbrauch stattgefunden habe.

Trotz der ungünstigen Bedingungen und der Gewalterfahrungen in ihrer Jugend kämpfte sich die junge Frau bis zum Abitur und Studium in Regensburg und München. Als sie 18 wurde, arbeitete sie nachts und ging tagsüber zur Schule. Die im niederbayrischen Vilshofen aufgewachsene Claus – dort, wo die SPD traditionell den Aschermittwoch begeht – wurde Journalistin und systemische Organisationsberaterin, begleitete ihren Mann, den ZDF-Korrespondenten Olaf Claus, einige Jahre nach Südafrika. Sie amüsiert sich darüber, dass sie in der Presse als „Rheinland-Pfälzerin“ bezeichnet wurde, weil sie dort mit den Grünen in den Landtagswahlkampf gezogen ist. Das Mandat verpasste sie, sorgte aber mit dafür, dass das Thema Kindesmissbrauch ressortübergreifend im Koalitionsvertrag verankert wurde.

2016 wurde Claus Mitglied des Betroffenenrats beim UBSKM, einem ehrenamtlichen Beratungsgremium, in dem es darum geht, über die gemachten Erfahrungen Betroffener politische und gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Zu sehen, dass sich trotz der Einzelschicksale, trotz der Unterschiede in Herkunft, Geschlecht, Alter und Religion immer wieder Schnittmengen offenbarten, die zu gemeinsamen Einschätzungen und Forderungen führten, war für sie eine große Motivation. „Unsere Betroffenheit war die Eintrittskarte in politische Prozesse. Mittlerweile ist es weitestgehend gelungen, dass Betroffene nicht mehr ausschließlich auf den Opferstatus reduziert werden.“ Nun werde auch deren Expertise ernst genommen.

Spezialistin für soziales Entschädigungsrecht

Auch die eigenen Erfahrungen mit der juristischen Aufarbeitung haben sie zu einer Spezialistin für soziales Entschädigungsrecht werden lassen. Claus war maßgeblich an dessen Reform beteiligt. Früher, sagt sie, sei es ein Glücksfall gewesen, auf einen kompetenten Anwalt zu stoßen. Wenn das Gesetz 2024 in Kraft tritt, müssen die Länder Kooperationsverträge für spezialisierte Fachberatungen geschlossen oder Trauma-Ambulanzen für Kinder und Jugendliche aufgestellt haben. „Wir brauchen Netzwerke, die die Lotsenfunktion für die Betroffenen übernehmen und die Belastungsschleifen reduzieren. Aber machen wir uns nichts vor: Anstrengend bleiben solche Verfahren.“

Das Jahr 2021 stellte mit der Amtsniederlegung von Johannes Rörig und dem Weggang von Sabine Andresen, der Vorsitzenden der Aufarbeitungskommission, eine Zäsur beim UBSKM dar. Eine gewisse Resignation war am Ende bei beiden zu spüren, deshalb hat Rörig alles dafür getan, die Strukturen politisch abzusichern. Claus wünscht sich mehr gesellschaftliche Handlungskompetenz: „Wir reden immer davon, genau hinzusehen, aber was mache ich dann, wenn ich hinsehe? Menschen müssen wissen, was sie bei Verdacht tun können.“ Claus’ Anliegen ist es, in die Breite, in die Region zu gehen, dort, wo die Hilfe vor Ort ansetzen muss. „Wenn wir als Staat, als Gesellschaft schon die Taten nicht verhindern konnten, müssen wir Begleit- und Unterstützungstrukturen schaffen vor Ort.“ Zumal, seitdem durch Krieg, Flucht und Corona mit steigenden Fallzahlen zu rechnen ist. Ob sie als Grünen-Mitglied einen besonderen Draht zur neuen Familienministerin haben wird, wird sich zeigen. Die persönliche Telefonnummer von Anne Spiegel hatte sie aber nie.

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