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Porträt | Ein Gespenst geht um in Frankreich: Jean-Luc Mélenchon will Regierungschef werden


Link [2022-05-21 22:33:12]



Als Regierungschef will Jean-Luc Mélenchon die Preise einfrieren, den Mindestlohn erhöhen, das Rentenalter senken und ermöglichen, per Referendum wortbrüchige Politiker abzuberufen

Präsident Emmanuel Macron darf das französische Kapital weitere fünf Jahre verwöhnen, die Neofaschistin Marine Le Pen muss in Warteschleife und Jean-Luc Mélenchon, und das linke Gespenst, war zum dritten Mal bei einer Präsidentenwahl knapp geschlagen. In Frankreich schien zuletzt alles seinen rechten Gang zu gehen.

Dann aber überraschte Mélenchon, Kopf von La France insoumise, indem er in einem Fernsehinterview sagte: „Wählt mich zum Regierungschef. Am ersten Tag friere ich die Preise ein. Am zweiten Tag erhöhe ich den Mindestlohn auf 1.400 Euro netto. Am dritten installiere ich die ökologische Planung. Am vierten senke ich das Rentenalter auf 60. Und dann ermöglichen wir es, per Referendum wortbrüchige Politiker abzuberufen.“

Frankreich hielt den Atem an. Premierminister werden hier nicht gewählt, sondern vom Präsidenten ernannt. Halb Knecht, halb Hofnarr. Doch weil auch der allmächtige französische Präsident seinen Premier aus der parlamentarischen Mehrheit rekrutieren muss, sind die Wahlen zur Nationalversammlung Mitte Juni jetzt heiß.

Wie heiß, das war dieser Tage in den Docks von Aubervilliers zu spüren. Während im Élysée-Palast Macron im Beisein von 450 Gästen aus bester französischer Gesellschaft für fünf weitere Jahre inthronisiert wurde, betrat hier, im Norden von Paris, Mélenchon den zuvor von Rachel Kéké aufgeheizten Saal. Kéké hat den erfolgreichen Streik der unterbezahlten, gehetzten und sexuell belästigten schwarzen Zimmerfrauen einer Hotelkette angeführt. Jetzt will sie in die Nationalversammlung, rief in die Menge: „Wir sind Frankreich!“

Jean-Luc Mélenchon wollte Emmanuel Macron in der Stichwahl herausfordern

Mélenchon ist etwas grau im Gesicht, seine Brille dicker geworden. 18 Monate Wahlkampf mit Hunderten von Meetings, Reden und TV-Auftritten haben dem 70-Jährigen zugesetzt. In seinem Element ist er trotzdem. Der Mann an der Spitze des „Rebellischen Frankreichs“ trägt eines seiner frischen weißen Hemden – er kauft sie bei einem Ausstatter für Berufskleidung, Abteilung Kellner. „Keine Angst“, mehr als zwei bis drei Stunden werde er nicht sprechen. Es werden 87 Minuten. Niemand findet das zu lang.

An diesem Tag schließt sich für Mélenchon ein Kreis. 2008 war er aus der Parti socialiste (PS) ausgetreten, um „alle Kräfte der menschlichen Emanzipation und des Fortschritts“ in einer radikaldemokratischen, antikapitalistischen und ökologischen Bewegung zusammenzubinden. Es sollte keine Avantgarde-Partei werden, wie er sie in seiner Jugend im Jura bei den Trotzkisten frequentierte. Vielmehr ist eine „Revolution der Citoyens“ als langer Marsch angelegt. Sieben Mal sei er gefallen, notierte eine Zeitung, „und acht Mal wieder aufgestanden“. Diesmal könnte es passen: Mélenchon hat in Aubervilliers die Insoumis, die Grünen, die Kommunisten und die Sozialistische Partei zu einer „Neuen sozialen und ökologischen Volksfront“ (NUPES) versammelt. „Zum ersten Mal in zwei Generationen“, sagt er, „steht in Frankreich ein starker sozialer und ökologischer Block.“

Fünf Jahre zuvor, bei der Präsidentschaftswahl 2017, hatte ihm nur eine Handvoll Stimmen gefehlt, um Marine Le Pen abzufangen und Emmanuel Macron herauszufordern. In Marseille hatten 70.000 den alten Hafen gestürmt, um Mélenchon zu hören. Doch statt sein rhetorisches Feuerwerk zu zünden, verlangte er eine Schweigeminute für die im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge.

Auch der kleine Jean-Luc war über dieses Meer gekommen, als Elfjähriger. Er wurde 1951 in Tanger im heutigen Marokko geboren, damals eine koloniale „Freizone“. Seine Vorfahren stammen aus Spanien und Italien. Nach Jahren in französischen Sozialsiedlungen, Studentenbewegung und Trotzkismus ergriff er den Lehrerberuf und trat in die SP ein. In der Regierung von Lionel Jospin brachte er es bis zum Minister für berufliche Bildung.

Jean-Luc Mélenchon vereinigt den links-grünen Block

Als 2017 die Stichwahl zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen feststand, hatte er bitter und polemisch reagiert. Der andere Mélenchon übernahm, ein Mann mit sperrigem Charakter. Wer mit ihm Streit sucht, sollte besser die Deutsche Ideologie gelesen haben und mit Robespierre per Du verkehren.

Doch die Insoumis sind mehr als Mélenchon. Seine kluge Mitstreiterin Clémentine Autain ging ihn öffentlich mit harter Kritik an, verlangte einen „Big Bang“ der Linken. Andere Mitstreiter zwangen ihn auf seinen langen Spaziergängen entlang der Ufer der Seine zur Klärung. Mancher mag nicht zu Unrecht vermuten, Mélenchon kokettiere mit einem schicksalhaften Platz in den Geschichtsbüchern. Doch gerade weil er jede Minute der Französischen Revolution studiert hat, ist er zu kollektivem Agieren fähig, hat zahlreiche helle Köpfe um sich versammelt, darunter viele Frauen wie Autain, die frühere Attac-Sprecherin Aurélie Trouvé und die Philosophin Barbara Stiegler.

Seit 2017 haben sie hart gearbeitet, programmatisch und taktisch, fußend auf der Erkenntnis, dass die Zeit der alten Parteien passé ist. Die Linke müsse ihr Verhältnis zu den vielfältigen gesellschaftlichen Bewegungen neu fassen, schrieb Aurélie Trouvé in ihrem Buch Der Regenbogen-Block. Die Parteien selbst müssen zu Bewegungen werden, sagt Mélenchon: „Nur so können wir die drei großen Dringlichkeiten lösen: den ökologischen, den sozialen und den demokratischen Notstand.“

Nach seinem dritten und knappen Scheitern bei einer Präsidentenwahl hat er den Absturz der anderen linken und grünen Kandidaten, die ihn eben noch verhöhnt hatten, für einen Schulterschluss genutzt. Jetzt geht wieder ein Gespenst um in Frankreich. Bis zur Wahl im Juni sind es nur noch wenige Wochen.

Oliver Fahrni, freier Autor, lebt in Marseille

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