Von Bildschirm zu Bildschirm ist die Anspannung spürbar. Khady Sabaly sitzt in einem blau-weiß getünchten Zimmer ohne Fenster in der Medina von Tanger und hält ihr Handy nicht still. Sie checkt ihre Whatsapp-Nachrichten. Kaum hat Khady das Smartphone vor sich abgestellt, nimmt sie es wieder auf, das Bild stockt, die Verbindung ist schlecht.
16. Januar, 15.30 Uhr, seit Mitternacht ist sie in Kontakt mit den Passagieren eines in Seenot geratenen Bootes vor der Küste Marokkos. Die 29-Jährige arbeitet ehrenamtlich für die internationale Organisation Alarmphone und begleitet am Telefon Migranten in Lebensgefahr. Jeden Tag setzen sich Menschen aus mehrheitlich westafrikanischen Ländern in Boote, um nach Spanien zu fahren. Seit zwei Jahren ist die Mittelmeerroute nach Gibraltar so gut wie dicht, mehr und mehr Boote fahren deshalb an der Atlantikküste ab, um die Kanaren zu erreichen. Diese Route ist mindestens hundert Kilometer lang, das Meer wild, die Strömung unberechenbar. Nach Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) kamen im vergangenen Jahr bis November etwa 19.000 Geflüchtete auf den Kanaren an, fast zehnmal mehr als noch 2019. Die spanische NGO Caminando Fronteras geht für 2021 zugleich von etwa 2.000 Menschen aus, die ertrunken sind.
Wagt jemand die Fahrt in Richtung Kanarische Inseln, ist Khady oft die erste, die davon erfährt. Sie stammt aus dem Senegal, ist in der migrantischen Community Marokkos gut vernetzt, heißt eigentlich anders und möchte nicht per Foto erkennbar sein. Neben der Alarmphone-Handynummer verteilt sie stets auch ihre eigene. Vor der Reise klärt Khady über Risiken und nötige Vorkehrungen auf, „genug Wasser, aufgeladenes Handy, Schwimmweste“. In einer Notsituation kann sie auf ein westafrikanisches Französisch zurückgreifen, um zu beruhigen und Daten abzufragen. Sie ist per Handy immer erreichbar.
„Gerade sind 53 Personen kurz vor dem Ertrinken“, sagt Khady. Der Motor sei bereits am Morgen ausgefallen, mittlerweile fließe Wasser in das Schlauchboot. Sie warte auf eine neue GPS-Lokalisierung, „wir wissen nicht, in welche Richtung sie treiben“. Standorte und andere Updates leitet sie an die „Permanence”, die europäische Alarmphone-Schicht weiter, die wiederum zuständige Seenothilfen informiert und zur Rettung auffordert. Bisher hätten jedoch weder der spanische Salvamento Marítimo noch die marokkanische Marine Royale Hilfe geschickt. „Ich muss noch mal die Permanence anrufen“, sagt Khady. Das Schicksal der Flüchtenden könnte ihr eigenes sein. Wie so viele Menschen verließ Khady vor acht Jahren den Senegal auf der Suche nach Arbeit. Sie hatte die Schule abbrechen müssen, um für die Eltern und ihren Sohn zu sorgen. „Aber wenn du keine Verwandten in den Behörden hast, findest du keinen guten Job.“
Also brach sie auf nach Marokko, um von dort weiter nach Europa zu gehen. Sechsmal versuchte sie die „voyage“, sechsmal scheiterte sie – einmal an der marokkanischen Polizei, die noch am Strand die Reisenden aufhielt, dann wieder an der Guardia Civil, die sie nach einer erfolgreichen Grenzüberquerung aus der spanischen Enklave Ceuta abschob. In Marokko lebt sie vom Straßenverkauf senegalesischer Gewürze. Und hilft anderen „voyageurs“ bei ihrer Suche nach einer Hoffnung.
„Khady ist einfach eine Mega-Power-Frau“„Khady weiß, wie man kämpft“, sagt Bousso, der ebenfalls aus dem Senegal stammt, auch in Tanger wohnt und seit fast acht Jahren Alarmphone-Aktivist ist. „Khady ist so etwas wie meine Schülerin, sehr motiviert.“ Er erinnert sich, wie er ihr anfangs die Schichten erklärte, sie mit anderen Aktivisten bekannt machte. Mittlerweile erreichten sie mehr Anrufe als ihn, besonders aus Laayoun und Tarfaya an der Atlantikküste. „Sie hat Kontakte vor Ort, deswegen macht ihre Nummer dort ständig die Runde.“
Dann der 17. Januar, 16 Uhr. Khady trägt dasselbe Alarmphone-Shirt wie am Vortag, dazu eine Kette mit kleinem Koran-Anhänger und eine lila Trainingsjacke. Sie ist kurz angebunden, „seit gestern fühle ich mich krank“. Neuigkeiten von dem havarierten Boot? Die hat sie: Zehn Überlebende, zwei Ertrunkene, der Rest der 53 Passagiere verschwunden. Es ist das erste Mal, dass Khady ein Unglück so direkt miterlebt hat. „Das nimmt mich ziemlich mit.“ Sie erzählt von ihrer Neunzehn-Stunden-Schicht: „Eine Frau hat mich in der Nacht angerufen, bitte hilf uns, wir sind in Seenot, rief sie. Aber alles, was wir machen können, besteht darin, die Marine zu informieren. Wir haben sie das erste Mal um vier Uhr morgens kontaktiert, aber gehandelt hat sie erst gegen 17 Uhr.“
Carla vom deutschen Alarmphone-Team weiß, wie belastend die Ohnmacht bei einem Bootsunglück sein kann. „Wir tauschen uns über die Trauer und die Wut aus“, sagt sie. Ein Ventil für den Druck seien politische Aktionen. „Und Khady ist ein extrem politischer Mensch.“ Carla erzählt, wie Khady für die letzte große Demo zum Frauenkampftag eine Rede geschrieben und jüngst eine Gedenkveranstaltung mitorganisiert hat. „Khady ist einfach eine Mega-Power-Frau.“ Die so Gelobte ist wütend auf Marokko, wo Leute wie sie keine Perspektive hätten: „Die Polizei kontrolliert dich, weil du schwarz bist. Es gibt keine Arbeit für dich. Du wirst in Seenot nicht gerettet.“ Und sie ist wütend auf die EU, die den Grenzschutz mitfinanziert: „Wenn es sichere Wege gäbe, wäre das Meer kein Friedhof.“
24. Januar, 15 Uhr. Khady trägt eine Perücke über ihrem kurzen Haar und sitzt im Café, da ist das Internet besser. Es gibt gute Neuigkeiten: Zwei Boote habe sie in der vergangenen Woche begleitet, die es beide zu den Kanaren geschafft hätten. Die Freude darüber ist ihr anzuhören.
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2024-11-10 12:00:14