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Pier Pasolini zum 100. | Afrika als Anderswo


Link [2022-03-05 19:19:00]



Sein Projekt einer afrikanischen „Orestie“ scheiterte – die Dokumentation dazu aber zeigt das kritische Denken des italienischen Regisseurs par excellence

Es ist ein unscheinbarer erster Satz: „Ich bin jemand“, so beginnt Pier Paolo Pasolini sein autobiografisches Poem Wer ich bin. Sein Freund, der italienische Romancier Alberto Moravia sagte über ihn bei der Beisetzung nach Pasolinis Ermordung im November 1975: Er ist ein Dichter gewesen, von denen in einem Jahrhundert höchstens drei geboren werden. Die Kommunistische Partei, die ihn 1947 wegen homosexueller Ausschweifungen als Mitglied verstoßen hatte, gab ihm bei der Beerdigung feierlich das Parteibuch zurück.

Am 5. März läuft Pasolinis Jahrhundert ab. Nur 53 Jahre davon hat er gelebt. Heute ist er – außer vielleicht in Kreisen linker Intellektueller in Italien und bei Filmfreaks – ein Vergessener. Ich sträube mich, all die Superlative zu wiederholen, die anlässlich seines Todes und in den ersten ein, zwei Jahrzehnten danach über ihn geprägt wurden. Sie klingen im Angesicht des einsetzenden Vergessens wie Phrasen.

Geboren in Bologna, stammt er aus dem Friaul. Selbst wenn Italiens Norden der industrialisierte und wirtschaftlich weitaus potentere Teil des Landes ist, war die Landschaft des Friaul in den frühen Jahren seines Jahrhunderts eine Landschaft der Bauern, Handwerker und Kleinhändler. Diese Heimat mit ihrer eigenen Sprache liebte er sein ganzes Leben. In dieser Sprache hat er Gedichte verfasst, denn in ihr zeigte sich für ihn der Urzustand Italiens. Er vergötterte einfache Menschen. Vor allem die jungen Männer unter ihnen, die er Nacht für Nacht aufsuchte. Erst in Casarsa im Friaul, wo er als Lehrer zusammen mit seiner über alles geliebten Mutter lebte, später in den Randbezirken von Rom, wo das Subproletariat zu Hause war. Dort spielt, im Milieu der Kleinkriminellen und Zuhälter, 1961 sein erster Film Accatone.

Als ab den 60er Jahren nach und nach das italienische Wirtschaftswunder ausbrach, sah er diese Welt hinter dem Konsumismus verschwinden. Er und das Fernsehen waren seine Gegner, weil sie nach seinem Urteil schuld waren an der „anthropologischen Mutation“. Sie machte das italienische Kleinbürgertum zu selbstvergessenen Konsumenten und den Katholizismus zur Blasphemie. Man erinnere den Anfang Silvio Berlusconis, der als Bauunternehmer erst die uniforme Trabantenstadt Milano 2 schuf und kurz danach das Fernsehen dazu in die Wohnzimmer lieferte. Der Kleinbürger, der dem Hedonismus der Reichen nachstrebt, war Pasolinis Feindbild. Als er sah, wie das Subproletariat im Verlauf der 60er Jahre selbst von der Mutation erfasst wurde, ging ein enttäuschter Pasolini in die „Dritte Welt“, um die Verfilmung der Orestie vorzubereiten.

Pasolini hat in seinen Filmen Das 1. Evangelium – Matthäus (1964), Edipo Re (1967) und Medea (1969) immer wieder große mythologische Stoffe aufgegriffen. Jetzt sollte es die Orestie sein, in der Orest seine Mutter Klytämnestra tötet, weil sie den Vater Agamemnon, den Helden von Troja, ermordet hat.

Drehpunkt der Zivilisation

Aischylos erzählt diese Geschichte so, dass der Rächer Orest für diese Tat nicht mit dem Tod bestraft wird, sondern erstmals in der Geschichte vor ein Gericht gestellt und durch geschicktes Plädieren Athenes freigesprochen wird. Erstmals wird die Kette von Gewalt und Gegengewalt durchbrochen. Pasolini verlegt den Drehpunkt der Zivilisation von Griechenland nach Afrika. Bei den Menschen dort sah er die Reinheit, die er brauchte, um einen solchen emanzipatorischen Stoff zu realisieren. Mit diesem Plan reiste er 1969 nach Afrika. Den Film selbst hat er nicht realisiert. Fertiggestellt hat er Notizen zu einer afrikanischen Orestie, als Text und parallel als einstündigen Dokumentarfilm (1970). Der erste Teil des Films zeigt ein großes Casting: Dies ist mein Orest! Dies ist meine Elektra! Der Zuschauer sieht ein ausdrucksstarkes Männergesicht oder eine junge Frau mit einem schräg auf ihrem Kopf sitzenden Hütchen, die stolz an seiner Kamera vorübergeht. So geht es minutenlang. Pasolini sah Afrika nicht als exotische Abenteuerwelt für Europäer, sondern als Prähistorie, aus der die Wiedergeburt der Demokratie wie ein heiliger Akt erfolgen wird.

Dass er die Realisierung dieses Films in Zweifel zog, hat seine Gründe nicht in technischen oder finanziellen Überforderungen. Er verschweigt die Ursache nicht. In der Universität von Rom trifft er sich mit afrikanischen Studenten. Im Film sieht man in einem kleinen Hörsaal viele afrikanische Studenten. Wenn ich mich richtig erinnere, sind es nur junge Männer, keine Frauen. Es dauert einige Zeit, bis eine Gesprächssituation zustande kommt. Noch länger braucht es, bis sich Widerspruch zu Pasolinis Film formuliert. Die Kamera konzentriert sich auf jeden Einzelnen, der ihm ruhig, aber selbstbewusst klarmacht, dass Afrika ein Kontinent ist mit mehr als fünfzig Ländern und noch mehr Nationen. Sie sind nicht bereit, dem Filmregisseur als Schauplatz archaischen Lebens zu dienen und sich Europa und Amerika als den Brutstätten hedonistischer Verkommenheit gegenüberstellen zu lassen. Sie orientieren sich an China und der Sowjetunion oder an der amerikanischen Kultur.

Welch eine menschliche wie künstlerische Souveränität, den Einspruch gegen sein Projekt zum Teil des Films zu machen. Das vermag nur ein Künstler, der die Welt nicht nach seinem Bilde darstellen will, sondern in der Welt das wahre Bild sucht. Der Zuschauer blickt in Gesichter von Afrikanern, viele mit Anzug und Krawatte, die in Italien studieren, weil sie sich für die Länder ihrer Herkunft einsetzen wollen. Pasolinis Sozialromantik scheitert, ein wenig auch das Pathos seiner Kunst. Aber seine Überzeugung: Afrika ist das Anderswo, mit dem sich die Moderne versöhnen muss, scheitert nicht. Propheten werden in ihrer Zeit selten erkannt. Er sah voraus, dass Asylanten, Entwurzelte, Subproletarier aus Afrika an der italienischen Küste landen werden. Ihn zu den Träumern zu rechnen, hebt seine Visionen nicht auf. Ein Künstler, Prophet und Ketzer ist zu feiern.

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